Tod in Breslau
dich, wie sie dir immer ent-
gegengelaufen ist – als man ihr Hinken kaum mehr be-
merkte? Erinnerst du dich, wie gern sie dich gemocht
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hat? Wie sie zur Begrüßung immer gerufen hat: ›Lieber
Herr Ebi! …‹«
Mock stand heftig auf.
»Was willst du eigentlich von mir? Ich habe dir den
Mörder geliefert. Sag endlich klar, was los ist, und schenk dir deine ciceronischen Exkurse!«
Von der Malten schwieg, ging zu seinem Schreibtisch
und entnahm der Schublade eine Blechdose mit der Auf-
schrift »Wiener Schokoladen«. Er öffnete sie und hielt sie Mock unter die Nase. Sie war mit rotem Samt ausgeklei-det, und darauf war mit Nadeln ein Skorpion aufgespießt.
Daneben lag ein blaues Kärtchen, auf dem jene kopti-
schen Zeilen über den Tod zu lesen waren. Darunter
stand geschrieben: »Dein Schmerz ist noch zu gering.«
»Das habe ich in meinem Arbeitszimmer gefunden.«
Mock betrachtete scheinbar abwesend die silberne
Armillarsphäre und sagte in bedeutend ruhigerem Ton:
»Es herrscht wohl kein Mangel an Psychopathen –
auch in unserer Stadt nicht. Und höchstwahrscheinlich
befindet sich einer davon unter deinen Hausdienern.
Denn wer könnte von außen in eine derart bewachte Re-
sidenz eindringen?«
Der Baron spielte mit einem kleinen Messer, das zum
Aufschneiden von Zeitungen diente. Plötzlich wandte er
den Blick vom Fenster ab. »Willst du es sehen, damit du
es glaubst? Willst du wirklich die Wäsche meiner Tochter
sehen? Ich habe sie aufbewahrt. Sie lag in dieser Dose,
neben dem Skorpion und der Karte.«
In der Tat: Mock erinnerte sich, dass am Ort des
Verbrechens die Wäsche von Marietta nicht gefunden
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werden konnte. Er hatte ja selbst einem seiner Leute auf-
getragen, alle Fetischisten ausfindig zu machen.
Von der Malten legte das Messer weg und rief mit be-
bender Stimme:
»Hör zu, Mock. Ich habe in meinem Keller den ›Mör-
der‹ bestraft, den du mir geliefert hast … einen alten,
verwirrten Juden … Es gibt nur einen Menschen auf der
Welt, den ich noch mehr hasse als dich, und das ist der
wahre Täter. Du wirst jetzt Folgendes tun, Mock: Du
wirst alles unternehmen, was in deiner Macht steht, um
den Mörder zu finden. Aber nicht du allein. Jemand an-
derer wird die Fahndung von neuem aufnehmen. Ein
Außenstehender, jemand, der noch in keine der Breslauer
Intrigen verwickelt ist. Außerdem hast du den Mörder ja
bereits einmal gefunden … Da kannst du dich schlecht
ein zweites Mal auf die Suche machen. Das würde dich
nicht nur deine Stellung, sondern auch deinen guten Ruf
kosten …«
Der Baron beugte sich über den Schreibtisch, sodass
ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander ent-
fernt waren. Mock konnte seinen schlechten Atem rie-
chen.
»Wirst du mir helfen, oder willst du, dass mit deiner
Karriere Schluss ist? Wirst du alles daransetzen, oder soll ich von Woyrsch und Kraus anrufen?«
Mock zögerte keine Sekunde: »Ich helfe dir. Doch ich
weiß nicht, wie. Was soll ich denn tun?«
»Endlich eine kluge Frage.« In der Stimme des Barons
schwang noch immer Zorn. »Komm mit in den Salon.
Ich stelle dir jemanden vor.«
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Als der Baron die Salontür öffnete, sprangen die beiden
Männer, die an einem Tischchen gesessen hatten, hastig
auf. Der Kleinere von ihnen sah mit seinem brünetten
Kraushaar aus wie ein erschrockener Junge, der von den
Eltern mit pornografischen Postkarten erwischt wurde.
Der andere war wohl noch jünger, schlank und dunkel-
haarig und hatte in seinen Augen denselben Ausdruck
von Mattigkeit und Zufriedenheit, den Mocks Spiegelbild
jeden Samstagmorgen aufwies.
»Herr Kriminaldirektor«, der Baron wandte sich Mock
zu, »Ich möchte Ihnen Herrn Doktor Georg Maass aus
Königsberg und den Berliner Kriminalassistenten Her-
bert Anwaldt vorstellen. Doktor Maass ist Privatdozent
an der Universität Königsberg, ein ausgezeichneter Semi-
tist und Historiker. Assistent Anwaldt ist Spezialist für
Verbrechen mit sexuellem Hintergrund. Meine Herren –
der Chef der Kriminalabteilung der Breslauer Polizei,
Kriminaldirektor Eberhard Mock.«
Sie verbeugten sich, und nachdem sich der Baron ge-
setzt hatte, nahmen auch sie Platz. Der Gastgeber fuhr im
selben gespreizten Ton fort:
»Der Herr Kriminaldirektor hat mir seine Zusicherung
gegeben, dass er Sie bei Ihrer Arbeit in jeder Hinsicht unterstützen wird. Sämtliche Akten und Bibliotheken ste-
hen Ihnen offen. Der Herr Kriminaldirektor hat sich
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