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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Köpperlingk.«
    Anwaldt hörte Doktor Maass aus der Küche kommen.
    Rasch schob er die Einladung unter den Briefbeschwerer.
    Mit einem unschuldigen Lächeln nahm er das dicke,
    sechseckige Glas entgegen. Während er trank, versuchte
    er, das schwarze Billet einzuordnen. Das aufgeregte Fal-
    sett des Semitisten drang kaum in sein Bewusstsein – was
    Maass jedoch nicht zu bemerken schien, da er seinem
    Gast lebhaft die Differenzen mit Professor Andreae dar-
    legte, die sich auf seinem Forschungsgebiet ergeben hat-
    ten. Als er gerade gewisse grammatikalische Fragen im
    Detail erörtern wollte, läutete es an der Tür. Maass blickte 148
    erneut auf die Uhr, ging hinüber ins Vorzimmer, und
    Anwaldt konnte erkennen, wie sein Gastgeber eine Gym-
    nasiastin einließ. (Es sind Ferien, die Hitze ist mörderisch, und sie kommt in ihrer Schuluniform! Wie idiotisch Vorschriften doch sein können!) Die beiden flüsterten einen Moment miteinander, worauf Maass ihr einen kräftigen
    Klaps auf die Hinterbacke gab. Das Mädchen kicherte.
    (Deshalb hat er mich hier festgehalten! Er wollte beweisen, dass es keine leeren Worte waren, als er mir von seinen la-sterhaften Gymnasiastinnen erzählte!) Anwaldt konnte seine Neugier nicht beherrschen und ging ebenfalls hi-nüber. Aber plötzlich spürte er, wie sich sein Magen zu-
    sammenkrampfte und sich ein widerlicher Geschmack in
    seinem Mund ausbreitete. Vor ihm stand Erna, die Erna
    seiner Vergangenheit.
    »Erlauben Sie, Herr Assistent, dass ich Ihnen vorstelle:
    Fräulein Elsa von Herfen, meine Schülerin. Ich gebe ihr
    Nachhilfestunden in Latein.« Maass’ Stimme überschlug
    sich fast. »Fräulein Elsa, das ist Kriminalassistent An-
    waldt, mein Freund und Mitarbeiter.«
    Anwaldt fühlte einen nahenden Schwächeanfall, als er
    in die tiefgrünen Augen des Mädchens blickte.
    »Ich denke, wir kennen uns …«, flüsterte er und hielt
    sich am Fensterbrett fest.
    »Ach, wirklich …?« Der tiefe Alt des Mädchens hatte
    nichts mit Ernas leiser, melodischer Stimme gemeinsam,
    auch erinnerte der große Pigmentfleck auf ihrer Hand
    keineswegs an Ernas Alabasterhaut. Trotz jener Details
    begriff Anwaldt nur langsam, dass er Ernas Doppelgänge-
    rin vor sich hatte.
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    »Entschuldigen Sie …«, er atmete erleichtert aus. »Sie
    haben sehr große Ähnlichkeit mit einer Berliner Bekann-
    ten. Lieber Herr Doktor, Sie haben sich rasch eingelebt in Breslau. Jetzt sind Sie erst vier Tage in der Stadt und haben bereits eine Schülerin … und was für eine …! Ich
    werde Sie nicht weiter stören. Auf Wiedersehen!«
    Maass begleitete Anwaldt zur Tür. Bevor er sie hinter
    ihm schloss, machte er eine bedeutungsvolle Miene,
    zwinkerte dem Assistenten zu und bildete mit Zeigefinger
    und Daumen der einen Hand einen Ring, in den er mit
    dem Zeigefinger der anderen einige Male hineinstieß.
    Anwaldt schnaubte verächtlich und lief einige Stufen
    hinunter, bis er hörte, wie die Wohnungstür endgültig
    zufiel. Dann stieg er die Treppe wieder hinauf und blieb
    etwas oberhalb der Wohnung stehen. Er befand sich auf
    dem Treppenabsatz neben dem Mosaikfenster, das sich
    über alle Stockwerke des Mietshauses erstreckte und die
    Wände des Stiegenhauses mit tanzenden Reflexen wie
    mit bunten Münzen übergoss. Er stützte seinen Ellbogen
    auf das Geländer und wartete.
    Anwaldt war eifersüchtig auf Maass, und diese Eifer-
    sucht empfand er für einen Moment sogar stärker als sei-
    nen Argwohn. Er hatte beschlossen, Elsa von Herfen ab-
    zupassen, um zu überprüfen, wie weit die Verführungs-
    künste von Maass reichten, aber ohne dass er sich dage-
    gen wehren konnte, stürzten nun die Erinnerungen auf
    ihn ein, schmerzhaft, aber trotzdem willkommen – denn
    sie würden ihm zumindest die Wartezeit verkürzen.
    Die Vergangenheit tauchte wieder vor seinem inneren
    Auge auf. Der 23. November 1921 hätte der Tag seiner
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    sexuellen Initiation sein sollen. Anwaldt war der Einzige
    in seiner Klasse, der noch keine Frau näher kennen ge-
    lernt hatte. Sein Kamerad Josef hatte versprochen, dass er die Sache in die Hand nehmen wolle, und tatsächlich hatte sich die junge, dralle Köchin des Waisenhauses zu ei-
    nem Stelldichein mit dreien der Zöglinge bereit erklärt.
    Sie hatten sich in dem kleinen Magazin verabredet, wo
    Turngeräte, schmutzige Bettwäsche und Handtücher auf-
    bewahrt wurden. Zwei Flaschen Wein hatten zuvor ge-
    holfen, ihre kindliche Scham zu vertreiben. Die Köchin
    drapierte ihren

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