Tod in Breslau
verkrüppelte Mädchen konnte
offenbar nur mit Mühe gehen und klammerte sich
krampfhaft an die andere. Der gelbe Pfad hob sich scharf
von dem dunkelblauen Himmelsgewölbe ab und verlor
sich im penetranten Grün des Waldes. Auf einer Wiese
brachen wie Geschwüre rote Blumen auf.
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Anwaldt riss die Augen auf und blickte direkt in das
bärtige, sonnengegerbte Gesicht des Kutschers, der sei-
nen Passagier misstrauisch ansah.
»Wir sind in der Zietenstraße.«
Anwaldt klopfte ihm vertraulich auf die Schulter (Ich
bin normal, es geht mir gut …) und grinste breit:
»Sagen Sie, gibt es in dieser Stadt eigentlich ein gutes
Bordell? Es soll aber, Sie verstehen schon, erstklassig sein.
Mit Mädels, die Hintern wie Pferde haben, so wie ich es
mag!«
Der Fiaker zwinkerte, holte aus seiner Brusttasche eine
Visitenkarte und reichte sie seinem Kunden.
»Hier wird der gnädige Herr alles finden, was das Herz
begehrt.«
Anwaldt zahlte und begab sich schnurstracks in das Re-
staurant an der Ecke. Er bat den älteren Kellner um die
Speisekarte, warf aber keinen Blick darauf, sondern zeigte mit dem Finger auf das erstbeste Gericht. Er schrieb seine Adresse auf eine Serviette und gab sie dem höflichen Ober.
Auch in seiner Wohnung gab es keinen Schutz vor der
Hitze. Er schloss das Fenster, das nach Südwesten zeigte,
und schwor, dass er es erst wieder in der späten Nacht
öffnen werde. Dann zog er sich bis auf seine Unterwäsche
aus und legte sich auf den Teppich. Seine Augen schloss
er nicht – es hätte ja das Bild Soutines wieder auftauchen können. Gleich darauf klopfte es laut an der Tür. Der
Kellner brachte das Essen unter einem Silbersturz, kas-
sierte sein Trinkgeld und verschwand. Anwaldt ging in
die Küche und machte Licht, lehnte sich an die Wand
und tastete achtlos nach der gestern gekauften Limonade-
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flasche. Plötzlich krampfte sich sein Zwerchfell zusam-
men, die Kehle war wie zugeschnürt: Sein Blick war auf
eine große Kakerlake gefallen, die, durch seine Anwesen-
heit alarmiert, schleunigst unter dem eisernen Herd ver-
schwand. Anwaldt stürzte hinaus und knallte die Kü-
chentür zu. Er setzte sich, trank die Limonadenflasche
mit einem Zug halb leer und stellte sich dabei vor, es sei Wodka.
Eine Viertelstunde verging, bis das Bild der Kakerlake
vor seinen Augen verschwand. Dann warf er einen Blick
auf sein Abendessen: Spinat mit Spiegelei. Schnell deckte
er den Teller wieder zu, um das nächste Bild zu vertrei-
ben: die braune Holztäfelung an der Wand des Speise-
saals im Waisenhaus, die Übelkeit, den Ekel, wenn er sich
die Nase fest zuhielt, um sich mit dem Aluminiumlöffel
den schmierigen Spinat in den Mund zu schieben.
Als ob er die Grenzen seines eigenen Abscheus finden
wollte, deckte er den Teller wieder ab und begann gedan-
kenlos in seinem Essen herumzustochern. Er stach in die
dünne Haut auf dem Dotter, der sich sofort über das Ei-
weiß ergoss. Mit der Gabel öffnete Anwaldt das Tor zu
einer allzu bekannten Landschaft: das flüssige Eigelb, das sich in Bahnen durch das fettige Dunkelgrün des Spinats
wand. Er ließ den Kopf auf die Tischkante sinken, seine
Hände hingen kraftlos herunter. Bevor er einschlief,
kehrte Soutines Bild noch einmal wieder: Er hielt Erna an
der Hand. Die weiße Haut des Mädchens wirkte noch
blasser in der dunkelblauen Schuluniform. Ihre schmäch-
tigen Schultern verschwanden ganz unter einem weißen
Matrosenkragen. Sie gingen auf einem schmalen Wald-
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weg durch das Dunkel von dicht stehenden Bäumen. Er-
na lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er war stehen ge-
blieben und hatte sie geküsst. Er hielt Lea Friedländer
umarmt. Die Wiese. Auf langen Grashalmen krabbelten
harmlose Käfer. Sie hatte fiebrig die Knöpfe seiner Klei-
dung geöffnet. Schwester Dorothea aus dem Waisenhaus
schreit: Schau doch, schon wieder hast du dich voll ge-
schissen! Glaubst du, dass es ein Vergnügen ist, das wie-
der sauber zu machen? Heißer Sand rieselt auf die abge-
schürfte Haut. Heißer Wüstensand bedeckte den Stein-
boden. Ein zotteliger Ziegenbock glotzte in die verwüstete Gruft. Die Spuren seiner Klauen im Sand. Der Wind bläst
den Sand in das Muster der Wandritzen. Von der Decke
fallen kleine, flinke Skorpione. Sie krabbeln um ihn he-
rum, ihre giftigen Schwänze sind steil aufgerichtet. Mock
reißt sich die Kopfbedeckung eines Beduinen vom Kopf.
Unter seinen Sandalen knirschen die ekelhaften
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