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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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verkrüppelte Mädchen konnte
    offenbar nur mit Mühe gehen und klammerte sich
    krampfhaft an die andere. Der gelbe Pfad hob sich scharf
    von dem dunkelblauen Himmelsgewölbe ab und verlor
    sich im penetranten Grün des Waldes. Auf einer Wiese
    brachen wie Geschwüre rote Blumen auf.
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    Anwaldt riss die Augen auf und blickte direkt in das
    bärtige, sonnengegerbte Gesicht des Kutschers, der sei-
    nen Passagier misstrauisch ansah.
    »Wir sind in der Zietenstraße.«
    Anwaldt klopfte ihm vertraulich auf die Schulter (Ich
    bin normal, es geht mir gut …) und grinste breit:
    »Sagen Sie, gibt es in dieser Stadt eigentlich ein gutes
    Bordell? Es soll aber, Sie verstehen schon, erstklassig sein.
    Mit Mädels, die Hintern wie Pferde haben, so wie ich es
    mag!«
    Der Fiaker zwinkerte, holte aus seiner Brusttasche eine
    Visitenkarte und reichte sie seinem Kunden.
    »Hier wird der gnädige Herr alles finden, was das Herz
    begehrt.«
    Anwaldt zahlte und begab sich schnurstracks in das Re-
    staurant an der Ecke. Er bat den älteren Kellner um die
    Speisekarte, warf aber keinen Blick darauf, sondern zeigte mit dem Finger auf das erstbeste Gericht. Er schrieb seine Adresse auf eine Serviette und gab sie dem höflichen Ober.
    Auch in seiner Wohnung gab es keinen Schutz vor der
    Hitze. Er schloss das Fenster, das nach Südwesten zeigte,
    und schwor, dass er es erst wieder in der späten Nacht
    öffnen werde. Dann zog er sich bis auf seine Unterwäsche
    aus und legte sich auf den Teppich. Seine Augen schloss
    er nicht – es hätte ja das Bild Soutines wieder auftauchen können. Gleich darauf klopfte es laut an der Tür. Der
    Kellner brachte das Essen unter einem Silbersturz, kas-
    sierte sein Trinkgeld und verschwand. Anwaldt ging in
    die Küche und machte Licht, lehnte sich an die Wand
    und tastete achtlos nach der gestern gekauften Limonade-
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    flasche. Plötzlich krampfte sich sein Zwerchfell zusam-
    men, die Kehle war wie zugeschnürt: Sein Blick war auf
    eine große Kakerlake gefallen, die, durch seine Anwesen-
    heit alarmiert, schleunigst unter dem eisernen Herd ver-
    schwand. Anwaldt stürzte hinaus und knallte die Kü-
    chentür zu. Er setzte sich, trank die Limonadenflasche
    mit einem Zug halb leer und stellte sich dabei vor, es sei Wodka.
    Eine Viertelstunde verging, bis das Bild der Kakerlake
    vor seinen Augen verschwand. Dann warf er einen Blick
    auf sein Abendessen: Spinat mit Spiegelei. Schnell deckte
    er den Teller wieder zu, um das nächste Bild zu vertrei-
    ben: die braune Holztäfelung an der Wand des Speise-
    saals im Waisenhaus, die Übelkeit, den Ekel, wenn er sich
    die Nase fest zuhielt, um sich mit dem Aluminiumlöffel
    den schmierigen Spinat in den Mund zu schieben.
    Als ob er die Grenzen seines eigenen Abscheus finden
    wollte, deckte er den Teller wieder ab und begann gedan-
    kenlos in seinem Essen herumzustochern. Er stach in die
    dünne Haut auf dem Dotter, der sich sofort über das Ei-
    weiß ergoss. Mit der Gabel öffnete Anwaldt das Tor zu
    einer allzu bekannten Landschaft: das flüssige Eigelb, das sich in Bahnen durch das fettige Dunkelgrün des Spinats
    wand. Er ließ den Kopf auf die Tischkante sinken, seine
    Hände hingen kraftlos herunter. Bevor er einschlief,
    kehrte Soutines Bild noch einmal wieder: Er hielt Erna an
    der Hand. Die weiße Haut des Mädchens wirkte noch
    blasser in der dunkelblauen Schuluniform. Ihre schmäch-
    tigen Schultern verschwanden ganz unter einem weißen
    Matrosenkragen. Sie gingen auf einem schmalen Wald-
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    weg durch das Dunkel von dicht stehenden Bäumen. Er-
    na lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er war stehen ge-
    blieben und hatte sie geküsst. Er hielt Lea Friedländer
    umarmt. Die Wiese. Auf langen Grashalmen krabbelten
    harmlose Käfer. Sie hatte fiebrig die Knöpfe seiner Klei-
    dung geöffnet. Schwester Dorothea aus dem Waisenhaus
    schreit: Schau doch, schon wieder hast du dich voll ge-
    schissen! Glaubst du, dass es ein Vergnügen ist, das wie-
    der sauber zu machen? Heißer Sand rieselt auf die abge-
    schürfte Haut. Heißer Wüstensand bedeckte den Stein-
    boden. Ein zotteliger Ziegenbock glotzte in die verwüstete Gruft. Die Spuren seiner Klauen im Sand. Der Wind bläst
    den Sand in das Muster der Wandritzen. Von der Decke
    fallen kleine, flinke Skorpione. Sie krabbeln um ihn he-
    rum, ihre giftigen Schwänze sind steil aufgerichtet. Mock
    reißt sich die Kopfbedeckung eines Beduinen vom Kopf.
    Unter seinen Sandalen knirschen die ekelhaften

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