Tod in Breslau
deutlich betont. Er stand auf und wandte sich
zum Gehen. Doch Maass machte einige aufgeregte Schrit-
te auf ihn zu und fuchtelte mit den Armen.
»Aber lieber Herbert, Sie sind nervös … Kein Wunder,
bei dieser Hitze … Ich bitte Sie, lesen Sie meine Überset-
zung gleich hier … verzeihen Sie meine Eitelkeit, aber ich 145
würde Ihre Meinung zu meiner Arbeit so gerne auf der
Stelle erfahren. Und ich möchte Sie ermuntern, Fragen zu
stellen oder zu kommentieren, was Ihnen in den Sinn
kommt … Sie sind ein intelligenter Mensch … Ich bitte
Sie!«
Maass tänzelte um seinen Besucher herum, er zog Zi-
garetten und auch Zigarren hervor und klickte mit sei-
nem Feuerzeug. Anwaldt griff dankend nach einer Zigar-
re und nahm einige tiefe Züge, ohne Rücksicht darauf,
wie stark der Tabak war. Dann machte er sich an das Stu-
dium der Weissagungen Friedländers. Er überflog die de-
taillierte Beschreibung der Methode und die Bemerkun-
gen über semitische Vokale und konzentrierte sich dann
auf die Übersetzungen der einzelnen Wörter. Die erste
Reihe lautete: avav – »Ruine«, chawura – »Wunde«, makak – »auslaufen, eitern«, afar – »Schutt«, shamajim –
»Himmel«. In der zweiten hieß es hingegen: jeladim –
»Kinder«, akrabbim – »Skorpione«, sewacha – »Gitterstä-
be«, amoc – »weiß«. Was den letzten Ausruf anbelangte, äußerte Maass Zweifel. »Die Aufnahme war nicht sehr
deutlich, deshalb kann man den Schluss entweder als chol –
›Küste, Sand‹ oder chul – ›sich krümmen, tanzen, hinunterfallen‹ verstehen.«
Anwaldt entspannte sich, die Wespe war durch das of-
fen stehende Oberlicht hinausgeflogen. Maass’ Hypothese
lautete folgendermaßen: »… es ist möglich, dass die Per-
son, auf die Friedländer in seiner ersten Prophezeiung
hinweist (Krachen, Wunde, eitern) , infolge eiternder Wunden zu Tode kommt, die ihm durch ein einstürzendes
Gebäude (Ruine) zugefügt werden. Der Schlüssel für die 146
Identifikation der Person liegt im Ausdruck shamajim –
›Himmel‹. Das zukünftige Opfer könnte also jemand sein,
dessen Name aus den Lauten sch, a, m, j, i und m zu-sammengesetzt ist, also zum Beispiel ›Scheim‹. Es könnte
jedoch ebenso gut sein, dass diese Person den Namen
Himmel, Himmler etc. trägt.
Man darf hingegen annehmen, dass sich die zweite
Prophezeiung bereits erfüllt hat. Unserer Meinung nach
bezieht sie sich auf Marietta von der Malten (Kind, weiße Küste – wie man die Insel Malta genannt hat), die in einem Salon ermordet wurde, dessen Wände mit gestreif-
tem Stoff (Gitterstäbe) tapeziert waren. In ihrer aufgeris-senen Bauchhöhle fand man Skorpione, die sich krümm-
ten.«
Anwaldt wollte sich nicht anmerken lassen, welch tie-
fen Eindruck diese Expertise auf ihn machte. Er löschte
sorgfältig seine Zigarre und stand auf.
»Wollen Sie wirklich nichts dazu sagen?« Die Eitelkeit
von Maass verlangte nach einem Lob. Er blickte verstoh-
len auf die Uhr. Anwaldt erinnerte sich an ein Ereignis
aus seiner Kindheit: Damals hatte er im Waisenhaus eine
Erzieherin hartnäckig dazu bringen wollen, den Turm
aus Bauklötzen zu bewundern, den er voller Stolz errich-
tet hatte.
»Doktor Maass, Ihre Expertise ist so präzise und über-
zeugend, dass sie keine Fragen offen lässt. Ich danke Ih-
nen sehr.« Anwaldt streckte ihm zum Abschied die Hand
hin. Maass übersah diese Geste scheinbar.
»Lieber Herbert«, flötete er süßlich. »Möchten Sie viel-
leicht ein kühles Bier?«
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»Ich trinke keinen Alkohol, aber ein Glas Limonade
oder Sodawasser – gerne.«
»Natürlich!« Maass strahlte. Auf dem Weg in die Kü-
che warf er noch einmal einen Blick auf seine Uhr, und
Anwaldt sah sich aus rein beruflicher Gewohnheit noch
ein wenig genauer in dem Raum um. Vielleicht war ihm
beim ersten Mal etwas entgangen? Und warum versuchte
Maass, ihn derart plump zum Bleiben zu nötigen?
Unter einem Briefbeschwerer lag ein elegantes, blass-
violettes Kuvert mit aufgedrucktem Wappen. Ohne zu
zögern, nahm Anwaldt die in der Mitte gefaltete, schwar-
ze Karte heraus, auf die mit silberner Tinte wenige Zeilen kalligrafiert waren:
»Ich möchte Sie herzlich zu unserem Maskenball ein-
laden, der heute, am Montag, dem 9. Juli 1934, in meiner
Residenz an der Uferzeile 9 stattfindet. Für Damen ist das Evakostüm obligatorisch. Es wäre erwünscht, wenn auch
die Herren im Adamskostüm erschienen.
Baron Wilhelm von
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