Tod in Breslau
umherzugehen. Er konnte kaum auftreten. Auf dem
Stuhl lag sein sorgfältig gereinigter und gebügelter beigefarbener Anzug. Er zog sich die Hosen an und sah sich
nach Zigaretten um. Wütend bemerkte Anwaldt, dass
man ihm bei der Gestapo seine Zigarettendose und sein
Feuerzeug abgenommen hatte.
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»Könntest du mir aus dem Restaurant an der Ecke
zwei Krautrouladen und ein Bier holen? Und Zigaret-
ten?« Während der Bursche fort war, wusch er sich ein
wenig an der Spüle in der Küche, wobei er Acht gab,
nicht in den Spiegel zu schauen. Dann setzte er sich er-
müdet an den Tisch. Bald darauf stand das dampfende
Essen vor ihm – das junge Kraut schwamm in der fetten
Soße der Rouladen. Er schlang alles in wenigen Minuten
hinunter. Als er die bauchige Kipke-Bier-Flasche betrach-
tete – an deren kühlem Hals hatten sich kleine Wasser-
tröpfchen gebildet, der weiße Porzellanstöpsel wurde von
einer Drahtspange gehalten –, fiel ihm sein Entschluss
wieder ein, streng abstinent zu bleiben. Er stieß ein spöttisches Lachen aus und schüttete die halbe Flasche in ei-
nem Zug in sich hinein. Darauf zündete er sich eine Ziga-
rette an und rauchte gierig.
»Ich habe dich gebeten, mir eine Krautroulade und ein
Bier zu bringen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dabei habe ich deutlich ›Bier‹ gesagt, oder?«
»Ja, genau.«
»Stell dir vor, ich habe das ganz mechanisch gesagt.
Und weißt du, wenn man mechanisch redet, dann redet
man eigentlich gar nicht selbst. Ein anderer spricht aus
einem heraus. Daher war es wohl so, dass nicht ich es
war, der dir aufgetragen hat, ein Bier zu holen, sondern
jemand anderer. Verstehst du?«
»Also wer denn dann?« Der Bursche war sichtlich ver-
wirrt.
»Gott!« Anwaldt brüllte vor Lachen, als er das Wort
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hervorstieß. Er lachte so lange, bis sein Kopf vor Schmerz zu bersten drohte. Ein weiteres Mal griff er nach der Flasche und setzte sie erst wieder ab, als sie leer war. So gut es ging, zog er sich an, am meisten Mühe hatte er damit,
sich den Hut auf seinen bandagierten Kopf zu setzen. Auf
einem Bein hüpfte er die gewundene Treppe hinunter
und stand auf der Straße, die vom Licht der untergehen-
den Sonne übergossen war.
VII
Soppot, Freitag, 13. Juli 1934.
Halb zwei Uhr nachmittags
Eberhard Mock machte einen Spaziergang auf der Soppo-
ter Mole und verdrängte unwillig immer wieder den Ge-
danken an das bevorstehende Mittagessen. Er war nicht
hungrig, denn er aß zwischen den Mahlzeiten meist ein
paar heiße Frankfurter Würstchen, die er mit einigen
Krügen Bier hinunterspülte. Für das Mittagessen müsste
er zudem seine jetzige Beschäftigung unterbrechen: Er
beobachtete die Mädchen, die in der Nähe des Kasinos
träge dahinschlenderten, ihre Körper, die sich provozie-
rend unter der geschmeidig fließenden Seide ihrer Röcke
oder ihrer Badekleidung wölbten. Mock schüttelte den
Kopf und bemühte sich ein weiteres Mal, die Gedanken
zu verjagen, die ihn nicht losließen und ihn fortwährend
zu der Stadt hindrängten, die dort in der Ferne in der un-
bewegten Luft der Talmulde zu ersticken drohte. Es zog
ihn hin zu den engen, überfüllten Mietshäusern mit ihren
dunklen Hinterhöfen, zu den monumentalen Bürgerhäu-
sern in klassischem Sandsteinweiß oder neugotischem
Ziegelrot, zu den Inseln, die geduldig die Last der vielen Kirchen trugen und um die sich das schmutzig grüne
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Band der Oder schlängelte. Er sehnte sich nach den hin-
ter dichtem Grün versteckten Residenzen und Palais, in
denen sich der »Herr des Hauses« und die »Dame des
Hauses« gegenseitig betrogen und die unsichtbare Die-
nerschaft hinter der Holztäfelung die Ohren spitzte. Ein
hartnäckiger Gedanke zog Mock zu dieser Stadt, in der
jemand traumhaft schönen jungen Frauen Skorpione in
die Bauchhöhle setzte und verdrießliche Männer mit
nicht ganz astreiner Vergangenheit ihre Ermittlungen an-
stellten – Ermittlungen, die ja doch mit einem Misserfolg
enden mussten. Es war ihm klar, diese Gedanken waren
nichts anderes als Gewissensbisse.
Angefüllt mit Bier, Würstchen und Trübsinn, begab
sich Mock zum Kurhaus, wo er mit seiner Gattin eines
der repräsentativen Prunkappartements gemietet hatte.
Im Restaurant traf ihn ein flehentlicher Blick aus den Au-
gen seiner Frau. Sie stand eingekeilt zwischen zwei älte-
ren Damen, die auch nicht den kleinsten Moment von ihr
abließen. Mock bemerkte, dass er keine Krawatte
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