Tod in Breslau
Nachttischlampe getaucht. Durch dicke Bril-
lengläser hindurch sahen ihn die klugen Augen von Dok-
tor Abraham Lanzmann an, dem Hausarzt des Barons
von der Malten.
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»Wo bin ich?« Anwaldt versuchte ein schwaches Lä-
cheln. Es war das erste Mal, dass nicht Alkohol der Grund
für seine zeitweilige Amnesie war.
»Sie sind in Ihrer Wohnung.« Doktor Lanzmann war
übernächtigt und ernst. »Die Polizeipatrouille, die auf der
›Schwedenschanze‹ im Oswitzer Wald nach dem Rechten
sieht, hat Sie hierher gebracht. Dort sind im Sommer
immer eine Menge Mädchen unterwegs. Und wo die
sind, geschieht immer irgendetwas Unvorhergesehenes.
Aber zur Sache: Sie waren so gut wie bewusstlos und ha-
ben unablässig die Namen von Mock, dem Baron und Ih-
ren eigenen wiederholt. Die Polizisten wollten ihren, wie
sie glaubten, betrunkenen Kollegen nicht im Stich lassen,
und haben Sie nach Hause gebracht. Und von hier haben
sie den Baron angerufen. Ich muss Sie jetzt verlassen. Der Herr Baron hat mir aufgetragen, ihnen diesen kleinen
Geldbetrag zu überbringen.« Er strich mit den Finger-
spitzen über ein Kuvert auf dem Tisch. »Hier haben Sie
eine lindernde und abschwellende Salbe für Ihre Verlet-
zungen. Und auf diesen Arzneifläschchen sind genaue
Angaben über Dosierung und Art der Anwendung. Ich
habe einiges in der Hausapotheke des Barons finden
können. Es ist jetzt fünf Uhr früh. Adieu. Ich werde gegen Mittag noch einmal vorbeikommen, dann werden Sie
sich ausgeschlafen haben.«
Doktor Lanzmann verließ das Zimmer, und Anwaldt
versuchte die Augen zu schließen. Seine Lider waren ge-
schwollen, und an Schlaf war nicht zu denken: Die Wände,
die nun die tagsüber gespeicherte Hitze abgaben, machten
es unmöglich. Nachdem er sich einige Zeit herumgewälzt
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hatte, rollte er sich aus dem Bett auf den schmutzigen
Teppich. Auf allen vieren kroch er zum Fensterbrett, zog
die schweren Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster.
Dann fiel er wieder auf die Knie und kroch mühsam zum
Bett zurück. Er legte sich auf die Decke und wischte sich
mit seinem Baumwolltaschentuch das Gesicht ab, dabei
vermied er sorgsam die Schwellungen, denn dort brachte
jede Berührung einen Vulkan von Schmerzen zum Aus-
bruch. Sobald er die Augen schloss, drangen ganze
Schwärme von Hornissen ins Zimmer, und wenn er das
Fenster vor ihnen verschloss, erstickten ihn die Mauern
mit ihrem heißen Atem, und aus allen Löchern krabbelten
Kakerlaken – einige davon sahen aus wie Skorpione.
Breslau, Donnerstag, 12. Juli 1934.
Acht Uhr morgens
Gegen Morgen war es etwas kühler geworden. Anwaldt
hatte zwei Stunden geschlafen. Als er aufwachte, saßen
vier Männer um sein Bett herum. Baron von der Malten
sprach leise mit Doktor Lanzmann. Als er bemerkte, dass
der Kranke aufgewacht war, nickte er den beiden Sanitä-
tern zu. Sie packten den fiebrigen Körper Anwaldts unter
den Achseln und an den Beinen und trugen ihn in die
Küche, wo ein riesiger Waschtrog mit lauwarmem Was-
ser bereitstand. Einer wusch Anwaldts malträtierten Kör-
per vorsichtig mit einem Schwamm, der andere rasierte
ihm seine dunklen Bartstoppeln. Bald lag er wieder in
seinem Bett, auf frischem, noch steifem Bettzeug. Er
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wandte Doktor Lanzmann seine wunden Körperteile zu,
auf die der Arzt verschiedene Salben und Tinkturen auf-
trug. Solange er die Behandlung nicht beendet hatte, hielt sich der Baron geduldig mit seinen Fragen zurück.
Schließlich begann Anwaldt zu sprechen. Seine Erzäh-
lung dauerte etwa eine halbe Stunde. Immer wieder un-
terbrach er sich, kam ins Stottern, biss die Lippen zu-
sammen. Er hatte die Kontrolle über seine Sprache verlo-
ren, sie geriet ins Wanken, und auf einmal brach Anwaldt
mitten im Wort ab und schlief ein. Er träumte von
schneebedeckten Gipfeln, weiten Eisflächen, frostigen,
arktischen Windböen: Ein Wind fegte über ihn hinweg
und trocknete seine Haut. Woher kam die Kühle, woher
kam der Wind? Er öffnete die Augen und sah in der
dunklen Abendsonne einen jungen Burschen sitzen, der
ihm mit einer Zeitung Kühlung zufächelte.
»Wer bist du?« Nur mit Mühe konnte Anwaldt den
bandagierten Unterkiefer bewegen.
»Helmut Steiner, ich bin der Küchenjunge des Herrn
Baron. Ich soll mich um Sie kümmern, bis Doktor Lanz-
mann Sie morgen wieder untersuchen kommt.«
»Wie spät ist es?«
»Sieben Uhr abends.«
Anwaldt erhob sich und versuchte, ein wenig im Zim-
mer
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