Tod in Breslau
das Gespräch am Nachbartisch.
»Machen Sie sich nichts daraus, Herr Schultze, das Leben
ist nun mal nicht leicht! Ich kann Ihnen versichern …«,
schwatzte ein Mensch mit einer etwas schief sitzenden
Melone drauflos. »Ich sage Ihnen: Niemand kann wissen,
wann es einen erwischt … Tatsache! Nehmen Sie den
letzten Unfall: Die Trambahn biegt von der Teichstraße
in die Gartenstraße, dort beim Bäcker Hirschlik … und
was soll ich Ihnen sagen: rammt doch in voller Fahrt eine
Droschke, die gerade zum Bahnhof unterwegs ist. Das
war so ein Hüne von einem Kutscher, der hat überlebt,
aber eine Frau mit Kind: tot! … Dieser Schurke von
Trambahnfahrer hat die beiden ins Jenseits befördert!
Niemand weiß, wann es einen erwischt, weder Sie noch
ich, weder der da noch sonst jemand … he, du rampo-
nierter Geselle, was glotzt du so?«
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Der Siphon zischelte irritiert. Anwaldt senkte den Blick.
Er hob die Tischdecke ein wenig an und sah, wie sich da-
runter zwei Hornissen begatteten, ihre Körper klebten
dicht aufeinander. Hastig strich er das weiße Tischtuch
glatt, und vor seinen Augen verwandelte es sich in einen
Bettbezug, der den Bankier Schmetterling notdürftig be-
deckte. Die krampfhaft miteinander verflochtenen Glied-
maßen gehörten zur Hälfte der hübschen Gymnasiastin
Erna.
Er trank zwei Cognacs hintereinander und wagte einen
Blick zur Seite, wobei er es vermied, den betrunkenen Di-
cken anzusehen, der Herrn Schultze in die Geheimnisse
des Weltgeschehens einweihte.
»Was? Beim Bismarckbrunnen? Auf dem Königsplatz,
sagst du? Da kommen die alle hin? Und hauptsächlich
Dienstmädchen und Kindermädchen?«
»Ja, und ich sage dir, das ist wirklich famos! Du musst
nicht groß schöntun oder dich sonst wie aufplustern. Die
wollen doch dasselbe von dir, wie du von ihnen …« Ein
magerer Student trank seinen Beaujolais direkt aus der
Flasche und kam immer mehr ins Schwärmen. »So ist es.
Klare Sache. Du gehst hin zu einer, lächelst ein bisschen
nett und nimmst sie mit. Das kostet dich weder Geld
noch Ehre. Auf die Soldaten kannst du getrost pfeifen! …
Pardon, kenne ich Sie von irgendwoher?«
»Nein, ich habe gerade nachgedacht …«, entgegnete
Anwaldt. (Ich würde gerne mit jemandem sprechen. Oder
Schach spielen. Ja – Schach! So wie damals im Waisen-
haus. Mit Karl, das war ein fanatischer Schachspieler. Wir stellten zwischen unsere Betten immer einen Koffer aus 202
Pappe, und darauf ein Schachbrett. Einmal, als wir gerade spielten, ist der besoffene Erzieher in den Schlafsaal gekommen.) Anwaldt konnte das Klappern der Schachfiguren hören, die zu Boden fielen, er spürte wieder die Trit-
te, die der Erzieher dem Koffer und den beiden Jungen
verpasst hatte, die unter das Bett geflüchtet waren.
»Ich sach’ Ihnen was, Herr Schultze, ich sach nämlich:
gut, dass man diese Professoren an die Luft gesetzt hat.
Ich sach, kein Jidd soll unseren Kindern Deutsch beibrin-
gen … die sollen nich … die sollen nich unsere Kinder
besudeln …«
Das Summen der Gasflämmchen, das ungeduldige Zi-
scheln des Siphons: Trink noch etwas!
»Also, diese polnischen Studenten: Die haben einfach
keine Bildung – nicht für fünf Pfennig! Aber Ansprüche!
Und was für Manieren! Ist gut, dass man ihnen bei der
Gestapo die Flötentöne beibringt. Schließlich sind wir in
einer deutschen Stadt, da sollen sie gefälligst deutsch
sprechen!«
Anwaldt stolperte zur Toilette. Auf dem Weg stieß er
auf zahlreiche Hindernisse: Unebenheiten im Parkett, Ti-
sche, die ihm den Durchgang verstellten, Kellner, die
durch den dichten Rauch hasteten. Endlich war er am
Ziel. Er knöpfte die Hosen auf, stützte sich mit beiden
Händen an die Wand und gab schwankend seinem
Drang nach. Durch das gleichmäßige Wasserrauschen
hindurch hörte er seinen dumpfen Herzschlag. Diesem
Geräusch lauschte er eine Zeit lang angestrengt. Plötzlich vernahm er einen Schrei und sah Lea Friedländers Körper über sich von der Decke baumeln. Wie von Sinnen
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stürzte er zurück in den Saal. Er musste unbedingt etwas
trinken, um dieses Bild in seinem Kopf zu ertränken.
»Ach, wie ich mich freue, Sie zu sehen, Herr Kriminal-
direktor! Nur Sie können mir helfen!«, rief er freudig
beim Anblick Mocks, der an seinem Tisch saß und eine
dicke Zigarre rauchte.
»Immer mit der Ruhe, Anwaldt, das stimmt ja alles gar
nicht! Lea Friedländer lebt ja.« Die kräftige, dunkel be-
haarte Hand
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