Tod in Breslau
rauchten.
Anwaldt zog das Jackett aus, breitete die Reisedecke
auf den Rasen und begann mit der Durchsicht der Akte
Köpperlingk. Doch er konnte darin nichts Geeignetes
finden, um ihn »in die Mangel zu nehmen«. Mehr noch:
alle Festivitäten, die der Baron je in seiner Wohnung und
auf seinem Anwesen arrangiert hatte, hatten den Segen
der Gestapo. (Mock hat mir erzählt, als Kraus von der
Homosexualität seines Agenten erfahren hat, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Aber dann, als er sich klar machte, welchen Nutzen er durch ihn haben könnte, hat er sich
schnell eines Besseren besonnen.) Eine letzte Eintragung, diesmal über den Diener des Barons, Hans Tetges, machte Anwaldt jedoch Hoffnung.
Er legte sich auf den Rücken und ließ seinen Gedanken
freien Lauf. Und schließlich fiel ihm eine gleichermaßen
brutale wie effektive Vorgehensweise gegen den Baron
ein. Zufrieden machte er sich daran, die acht Akten der
von Gestapo und Kripo erfassten Türken zu studieren.
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Von ihnen hatten fünf bereits vor dem neunten Juli, an
dem der Maskenball bei Köpperlingk stattgefunden hatte,
Breslau verlassen. Die restlichen drei schieden aus Alters-gründen aus – denn es war nicht sehr wahrscheinlich,
dass Anwaldts Peiniger erst zwanzig Jahre alt war (wie die beiden Studenten der Technischen Hochschule) oder gar
bereits sechzig (wie ein Händler, der wegen seiner über-
mäßigen Spielleidenschaft in die Gestapo-Akten Eingang
gefunden hatte). Aber natürlich blieb noch die Möglich-
keit, dass die Erkundigungen von Smolorz beim Melde-
amt und dem türkischen Konsulat weitere Informationen
über andere Orientalen lieferten, die bisher noch nicht
das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatten, Gegenstand
einer polizeilichen Untersuchung zu werden.
Selbst während er die Akten der Türken studierte,
dachte Anwaldt fieberhaft darüber nach, wie die »Schlin-
ge um den Hals des Barons« aussehen könnte. Aber seine
Konzentration wurde immer wieder durch den lautstar-
ken Protest eines Kindes gestört, das in Anwaldts Nähe
zurechtgewiesen wurde. Anwaldt stützte sich auf den Ell-
bogen und hörte der gutmütigen, beschwichtigenden
Stimme des nicht mehr ganz jungen Kindermädchens
und dem hysterischen Kreischen des Kleinen zu.
»Aber Klaus, jetzt sage ich es dir noch einmal: Der
Mann, der gestern angekommen ist, das ist wirklich dein
Papa.«
»Nein! Den kenne ich gar nicht! Meine Mama hat ge-
sagt, dass ich keinen Papa habe.« Der zornige Dreikäse-
hoch stampfte trotzig mit dem Fuß auf.
»Deine Mama hat das bloß gesagt, weil alle gedacht
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haben, dass dein Papa von wilden Indianern in Brasilien
umgebracht worden ist.«
»Meine Mama lügt nie!« Der hohe Diskant des Kleinen
überschlug sich fast.
»Na, sie hat ja auch nicht gelogen. Sie hat gesagt, dass
du keinen Papa hast, weil sie geglaubt hat, dass er tot ist
… Und jetzt wissen wir aber, dass er sehr wohl lebt. Jetzt hast du wieder einen Papa.« Die Frau legte eine beispiellose Geduld an den Tag.
Der Kleine gab sich nicht geschlagen. Er hieb mit sei-
nem hölzernen Gewehr auf den Boden und brüllte:
»Du lügst! Mama lügt nicht! Warum hat sie mir nicht
gesagt, dass das der Papa ist?«
»Sie ist nicht mehr dazu gekommen. Sie mussten heut
schon in aller Frühe nach Trebnitz aufbrechen. Morgen
Abend werden sie zurück sein, dann werden sie dir alles
erzählen.«
»Mama!!! Mama!!!« Der Junge warf sich laut heulend
auf die Erde und schlug mit allen vieren auf sie ein. Dabei wirbelte er Wolken von Staub auf, der auch seinen frisch
gebügelten Matrosenanzug bedeckte. Das geplagte Kin-
dermädchen versuchte ihn hochzuheben, Klaus entwand
sich jedoch ihrem Griff und biss sie in den Unterarm.
Anwaldt stand auf, schichtete die Akten aufeinander,
faltete die Decke zusammen und humpelte zum Auto. Er
vermied es, sich noch einmal umzusehen, da er fürchtete,
er werde umkehren und Klaus an seinem Matrosenkra-
gen packen, um ihn im Teich zu ersäufen. Aber seine
mörderischen Gedanken waren keineswegs nur auf das
Geschrei des Kindes zurückzuführen, das sich noch aus
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der Entfernung wie eine Rasierklinge in den wunden
Kopf und die schmerzhaften Hornissenstiche schnitt:
Nein, nicht das Geschrei brachte ihn zur Weißglut, son-
dern dieser gedankenlose, dumme Trotz, mit dem das
verzogene Balg ein unglaubliches Glück von sich wies: die
unerwartete Rückkehr eines Elternteils nach mehreren
Jahren. Es war ihm gar
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