Tod in Breslau
Temperaturen unter zwanzig
Grad hatte ihren Grund. Hartner, ein ausgezeichneter
Kenner orientalischer Sprachen, war erst vor einigen
Wochen von einem fast dreijährigen Aufenthalt in der
Sahara zurückgekehrt, wo er die Sprachen und Gebräu-
che einiger Wüstenvölker erforscht hatte. Die Sommer-
glut in Breslau war für ihn also genau das Richtige, nur
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dass es damit – leider – an der Schwelle zu seinen Amts-
räumen vorbei war. Die dicken, isolierenden Mauern, ei-
ne unüberwindliche Barriere für jede Temperatur-
schwankung, irritierten ihn weit mehr als die frostigen
Nächte in der Sahara, wenn sein tiefer Schlaf ihn vor der
Kälte schützte. Und ausgerechnet hier, in der kühlen Ab-
geschlossenheit seines Arbeitszimmers, musste er nun
arbeiten, Entscheidungen fällen und immer neue Doku-
mente unterschreiben.
Diese Kühle hatte jedoch auf die beiden Männer, die es
sich auf dem Ledersofa bequem gemacht hatten, eine
ganz andere Wirkung. Es atmete sich leichter – obwohl
die Luft statt mit der Glut und dem Staub der Straße hier
mit Sporen und Schimmelpilzen, die sich auf den vergilb-
ten Folianten gebildet hatten, durchsetzt war.
Hartner ging nervös im Zimmer auf und ab. In den
Händen hielt er das Stück Tapete mit den »Todesversen«.
»Merkwürdig … Die Schrift ähnelt sehr den arabi-
schen Handschriften aus dem elften oder zwölften Jahr-
hundert, die ich in Kairo gesehen habe.« Sein waches,
schmales Gesicht unter dem stacheligen, kurz geschore-
nen grauen Haar wurde nachdenklich. »Es ist aber nicht
derselbe arabische Dialekt. Ehrlich gesagt, die Schrift
sieht mir nicht danach aus, als handele es sich überhaupt
um semitische Zeichen. Aber wir werden sehen, bitte las-
sen Sie mir die Tapete ein paar Tage hier. Möglich, dass
ich es herausbekomme, wenn ich die arabische Schrift
mit einer anderen vergleiche … Wie ich sehe, haben Sie
da noch etwas für mich? Was sind das für Fotos, Herr …
Herr …«
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»Anwaldt. Es sind Kopien aus dem Notizbuch von
Herrn Maass. Er selbst nennt es die ›Chronik des Ibn Sa-
him‹, die er aus dem Arabischen übersetzt hat. Wir hät-
ten gerne ein wenig mehr Informationen zu Thema und
Autor dieser Chronik, aber auch zu der Übersetzung
selbst.«
Hartner überflog den Text eilig. Nach ein paar Minu-
ten kräuselten sich seine Lippen zu einem nachsichtigen
Lächeln.
»Man kann in diesem Text viele charakteristische Stil-
merkmale der wissenschaftlichen Arbeiten von Maass he-
rauslesen. Ich möchte mich jedoch nicht zu seiner Über-
setzung äußern, bevor ich nicht das Original kenne. Sie
müssen nämlich wissen, verehrte Herren, dass Maass für
seine Phantastereien ebenso wie für seine an Blindheit
grenzende Sturheit berühmt ist. Es ist eine fixe Idee von
ihm, in jedem alten Text ein mehr oder weniger versteck-
tes Grundmuster alttestamentarischer apokalyptischer
Visionen ausfindig zu machen. In seinen wissenschaftli-
chen Veröffentlichungen wimmelt es geradezu fieberhaft
von krankhaften Vorstellungen von Tod und Verderben,
die für ihn wohl überall lauern – sogar in Liebesszenen
oder Bacchanalien. Das kann man auch in dieser Über-
setzung erkennen, aber erst der Vergleich mit dem Origi-
naltext wird mir erlauben zu sagen, ob diese Elemente
vom Übersetzer selbst stammen – oder vom Autor der
Chronik, der mir übrigens nicht bekannt ist.«
Hartner war ein Wissenschaftler, der seine Forschun-
gen in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit seines Ar-
beitszimmers betrieb, der die Ergebnisse seiner Untersu-
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chungen nur in spezialisierten Periodika veröffentlichte
und die Euphorie seiner Entdeckungen bisher nur dem
Wüstenwind anvertraut hatte. Zum ersten Mal seit vielen
Jahren hatte er eine Hörerschaft vor sich, die – wenn
auch nicht sehr zahlreich – aufmerksam seinen Ausfüh-
rungen folgte. Er schien seinen Vortrag zu genießen und
lauschte dem Klang seiner eigenen tiefen Baritonstimme
fast andächtig.
»Ich kenne die Arbeiten von Maass, Andreae und an-
deren Wissenschaftlern, die Werke analysieren, die es gar
nicht gibt, und die aus diesen Analysen neue Theorien
konstruieren – dabei haben sie ihre Helden aus den Mo-
saiksteinchen ihrer eigenen Phantasie zusammengestük-
kelt. Deshalb müssen wir, um eine Fälschung auszu-
schließen, herausfinden, woran Maass im Moment arbei-
tet: ob er wirklich ein Werk aus der Antike übersetzt oder ob er selber eines aus den
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