Tod in Breslau
nicht bewusst, dass er halblaut vor sich hin murmelte:
»Wie soll man so einem Trotzkopf klarmachen, dass
sein Protest idiotisch ist? Man sollte ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, damit er seine Dummheit ein-sieht. Denn ganz sicher wird er nichts verstehen, wenn
ich zu ihm gehe, ihn auf die Knie nehme und sage: ›Lie-
ber Klaus, sei froh, dass du nie aus dem Fenster geschaut
hast, alle vorbeigehenden Männer ansiehst und dir aus-
nahmslos bei jedem vorstellst: Das ist mein Papa, er ist
sehr beschäftigt, und deshalb hat er mich in ein Waisen-
haus gesteckt, aber er wird mich bald hier herausholen.‹«
VIII
Breslau, Samstag, 14. Juli 1934.
Halb drei Uhr nachmittags
Kurt Smolorz saß auf dem Rasen des Rehdingerplatzes
und wartete auf Mock. Seine Zweifel, was die Qualität
seines Berichtes betraf, wuchsen immer mehr. Er hatte
darin die Ergebnisse der Überwachung von Konrad
Schmidt, einem kraftvoll zupackenden Gestapo-Mann,
zusammengefasst, der von Gefängniswärtern und Gefan-
genen nur »der dicke Konrad« genannt wurde. Der Inhalt
des Berichts hätte eine wirkungsvolle Methode liefern
sollen, diesem Mann »eine Schlinge um den Hals« zu le-
gen – Mock liebte diese Metapher. Aus den von Smolorz
gelieferten Informationen ging hervor, dass Schmidt ein
ausgemachter Sadist war, dessen Menge an Fettzellen in
umgekehrtem Verhältnis zur Anzahl seiner Hirnwindun-
gen stand. Bevor er im Gefängnis eine Anstellung fand,
hatte er als Klempner, als Zirkusathlet und als Wächter in der Spiritusbrennerei Kani sein Brot verdient. Wegen
Weingeistdiebstahls war er im Gefängnis gelandet und
nach einem Jahr wieder entlassen worden, womit die
Chronologie seiner Akte abbrach. Alles Nachfolgende be-
traf Konrad, den Gefängniswärter. In diesem Beruf arbei-
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tete er nun seit einem Jahr für die Gestapo. Smolorz be-
trachtete den ersten Eintrag in der Rubrik »persönliche
Schwächen«: Er lautete »Schnapstrinker«. Ärgerlich ver-
zog Smolorz das Gesicht. Diese Notiz würde seinen Chef
kaum zufrieden stellen.
Schnaps wäre vielleicht ein geeignetes Zwangsmittel
für einen Alkoholiker gewesen – was Konrad jedoch mit
Sicherheit nicht war. Die zweite Notiz lautete: »Lässt sich leicht zu Schlägereien hinreißen«. Smolorz konnte sich
nicht vorstellen, wie man diese Tatsache gegen Schmidt
verwenden könnte, aber schließlich war es nicht seine
Aufgabe, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Lediglich
der dritte und letzte Eintrag ließ etwas Hoffnung auf-
kommen, dass die intensive Arbeit einer ganzen Woche
nicht ganz umsonst gewesen war: »Höchstwahrscheinlich
sexuell abnorm veranlagt, Sadist«.
Smolorz nahm es Mock auch übel, dass er ihn zu einer
strikten Befolgung der Dienstvorschriften verdonnert
hatte. Natürlich hätte er seinem Chef den Bericht lieber
einfach auf den Schreibtisch gelegt, um dann gemütlich
irgendwo ein kühles Bier zu sich zu nehmen. Stattdessen
war er nun dazu angehalten worden, Mock vor dessen
Haus abzupassen – noch dazu ohne zu wissen, wie lange
sich diese Warterei hinziehen würde.
Es sollte nicht lange dauern. Bereits eine Viertelstunde
später saß Smolorz in Mocks Wohnung vor seinem er-
sehnten eisgekühlten Bier in banger Erwartung des Ur-
teils seines Chefs. Dies bezog sich vorwiegend auf stilistische Fragen:
»Also, was soll das, Smolorz, sind Sie denn nicht im
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Stande, Ihre Gedanken folgerichtig und in angemesse-
nem Amtsdeutsch zu verfassen?« Der Direktor lachte
laut. »In einem halbwegs offiziellen Schreiben müsste es
heißen: ›Hang zu übermäßigem Branntweingenuss‹ und
nicht ›Schnapstrinker‹. Aber schon gut, schon gut, ich bin sehr zufrieden. Sie können jetzt nach Hause gehen. Ich
muss mich ein wenig hinlegen, denn ich habe noch einen
wichtigen Besuch vor mir.«
Breslau, 14. Juli 1934.
Halb sechs Uhr nachmittags
Der neu ernannte Direktor der Universitätsbibliothek,
Doktor Leo Hartner, streckte seinen knochigen Körper
und verfluchte wohl zum hundertsten Mal in Gedanken
den Architekten, der das barocke Augustinerkloster an
der Neuen Sandstraße umgebaut hatte, um in dessen
Mauern die prunkvolle Universitätsbibliothek einzurich-
ten. Der größte Fehler bestand Hartners Meinung nach
darin, dass das repräsentative Direktionszimmer nach
Norden wies – was von allen Besuchern, nicht jedoch von
Hartner selbst als angenehm empfunden wurde. Seine
Abneigung gegenüber allen
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