Tod in Breslau
uns da für
ein Register gebracht haben.« Hartners Stimme klang
wenig freundlich. Der Bibliothekar tat, wie ihm geheißen,
und kehrte an seine Arbeit zurück – während Hartner
sich gleich daranmachte, die geneigte gotische Schön-
schrift Smetanas zu entziffern.
»Ja, meine Herrschaften … seit über einer Woche stu-
diert Maass bei uns ausschließlich eine einzige Hand-
schrift aus dem vierzehnten Jahrhundert, die den Titel
›Corpus rerum Persicarum‹ trägt. Ich werde mir dieses
Werk morgen genauer anschauen und die von ihnen ab-
fotografierte Übersetzung mit dem Original vergleichen.
Und heute werde ich mir die Schrift auf der Tapete des
Salonabteils mit den Prophezeiungen dieses unglückli-
chen Friedländers vornehmen und mich ein bisschen über
jenen Ibn Sahim schlau machen. Vielleicht kann ich Ih-
nen übermorgen schon mit den ersten Ergebnissen die-
nen. Ich werde mich dann mit Ihnen in Verbindung set-
zen, Herr Kriminaldirektor.« Hartner setzte seine Brille
231
auf und hatte seine Gesprächspartner bereits vergessen.
In dem Moment, in dem er sich an die Übersetzung ge-
macht hatte, war seine Leidenschaft für lehrreiche Vor-
träge vollkommen erloschen. Jetzt richtete er seine ganze
Aufmerksamkeit auf die blutige Inschrift. Er murmelte
etwas vor sich hin, vielleicht eine erste, intuitive Hypo-
these. Mock und Anwaldt erhoben sich, um sich zu ver-
abschieden, aber Hartner antwortete nicht einmal mehr,
so sehr war er bereits in seine Aufgabe vertieft.
»Sehr gefällig, dieser Doktor Hartner. Er hat in seiner
Position sicherlich viele andere Pflichten. Und trotzdem
möchte er uns behilflich sein. Wie ist das möglich?« An-
waldt hatte bemerkt, dass schon seine ersten Worte ein
merkwürdiges Grinsen auf Mocks Gesicht hervorgerufen
hatten.
»Lieber Herbert, es ist ganz einfach so, dass Hartner
mir einigen Dank schuldet. Und ich kann Ihnen versi-
chern, seine Dankbarkeit ist so groß, dass er auch die ar-
beitsintensivste Expertise nicht scheuen wird.«
IX
Kanth bei Breslau, Sonntag, 15. Juli 1934.
Acht Uhr abends
Baron von Köpperlingk flanierte durch den großen Park,
der seinen Besitz umgab. Die untergehende Sonne rief bei
ihm immer dunkle Vorahnungen und ein unbestimmtes
Gefühl der Sehnsucht wach. Aber heute irritierten ihn die
durchdringenden Schreie der Pfaue, die um das Palais
herumspazierten, ebenso wie das Hundegebell und seine
Freunde, die im Wasser des Bassins herumplantschten.
Auch die unverschämte Neugier der Dorfkinder, deren
Augen nichts entging, was sich hinter den Mauern des
Palais zutrug, raubte ihm die Ruhe. Ihre Blicke schienen
immer anwesend, auch abends und nachts, sie blitzten
durch die Bäume und Hecken wie Katzenaugen. Er ver-
abscheute diese unverschämten, schmutzigen Lümmel,
die, sobald sie seiner ansichtig wurden, in spöttisches Ge-lächter ausbrachen. Wenn er die Mauer betrachtete, die
seinen Besitz umgab, wollte ihm scheinen, als könnte er
die Kinder durch die Steine hindurch sehen und hören.
Trotz seines heftigen Zorns begab er sich mit würdevol-
len Schritten ins Palais. Mit einer Handbewegung winkte
er seinen alten Kammerdiener Josef zu sich.
233
»Wo ist Hans?«, fragte er kühl.
»Ich weiß es nicht, gnädiger Herr. Er hat einen Tele-
fonanruf bekommen und hat sofort das Haus verlassen.
Er war sehr aufgebracht.«
»Warum hast du mir das nicht gleich mitgeteilt?«
»Ich habe es nicht für angebracht gehalten, den gnädi-
gen Herrn während seines Spaziergangs zu beunruhi-
gen.«
Der Baron blickte seinen altgedienten Lakaien ruhig an
und zählte im Geiste bis zehn. Mit aller Beherrschung, zu
der er noch fähig war, zischte er:
»Josef, du hast mir jede Information über Hans zu-
kommen zu lassen, auch wenn du der Ansicht bist, sie sei
unwesentlich. Wenn du das noch einmal vergessen soll-
test, dann wirst du als Bettler bei der Fronleichnamskir-
che enden.«
Der Baron lief die Auffahrt hinunter in die letzten
Strahlen der untergehenden Sonne hinein und rief einige
Male den Namen seines vertrautesten Kammerdieners.
Aus dem Schatten der Hecke fixierten ihn feindliche Bli-
cke. Er beschleunigte seinen Schritt und steuerte auf das
eiserne Tor zu. Die spöttischen Augen verfolgten ihn, die
dumpfe Abendluft war zum Ersticken. »Hans, wo bist
du?«, kreischte der Baron. Er geriet auf dem glatten Weg
ins Stolpern und verlor das Gleichgewicht. »Hans, wo bist
du, ich kann nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher