Tod in Breslau
Zen-
trum Mesopotamiens durchquert haben, um westlich von
Mosul die Relikte ihres Glaubens zu hinterlassen. Im täg-
lichen Umgang waren die Yeziden eine sehr friedfertige
Gemeinschaft, ordentlich und reinlich – so hat sie jeden-
falls Austen Henry Layard, ein Reisender und Archäolo-
ge, der im neunzehnten Jahrhundert gelebt hat, aus-
drücklich beschrieben. Sie sind durch viele Jahrhunderte
hindurch von allen verfolgt worden: von Kreuzrittern,
Arabern, Türken und Kurden. Es soll Sie daher nicht
wundern, wenn sich sogar die Kreuzfahrer und die Sara-
zenen gegen die Yeziden verbündet hatten. Für alle, die
gegen diese Glaubensgemeinschaft vorgingen, war der
Stein des Anstoßes der Kult um einen ›Gott des Bösen‹ –
das war für sie die Rechtfertigung für ihre überaus grau-
samen Massaker. Und die solcherart dezimierten Yeziden
revanchierten sich bei ihren Feinden mit gleicher Uner-
bittlichkeit: Der Aufruf zur Stammesrache wurde von
Generation zu Generation weitergegeben. Bis heute leben
sie an der Grenze zwischen der Türkei und Persien, sie
haben ihre Riten unverändert beibehalten, ebenso ihren
eigenartigen Glauben …«
»Doktor Hartner«, Mock hielt es nicht mehr aus vor
Ungeduld, »das alles ist ja sehr spannend, aber jetzt sagen 250
Sie uns doch bitte: Hat diese interessante Geschichte, die sich vor einigen Jahrhunderten abgespielt hat, abgesehen
von der Tatsache, dass Maass sie ans Tageslicht gebracht
hat, mit unserem Fall etwas zu tun?«
»Ja. Sie hat sogar sehr viel damit zu tun.« Hartner lieb-
te es, seine Zuhörer auf die Folter zu spannen. »Denn wir
müssen das präzisieren: Nicht nur Maass wusste von der
Chronik, sondern auch derjenige, der Marietta von der
Malten ermordet hat.« Die verwunderten Mienen seiner
Zuhörer bereiteten Hartner großen Genuss. »Ich möchte
behaupten, und dafür lege ich meine Hand ins Feuer,
dass die Aufschrift auf der Wand des Salonwagens, in
dem die unglückliche junge Frau gefunden wurde, aus
dieser persischen Chronik stammt. In der Übersetzung
lautet sie: ›Doch in ihren Eingeweiden tanzten Skorpio-
ne.‹ Haben Sie ein wenig Geduld, ich werde Ihnen gleich
alle Fragen beantworten … Aber ich muss Ihnen noch
ein wichtiges Detail darlegen. In einer anonymen Quelle,
die wohl Ende des dreizehnten Jahrhunderts verfasst und
von einem Franken überliefert wurde, finden wir Hinwei-
se darauf, dass die halbwüchsigen Kinder des Yeziden-
Priesters Al-Shausi von einem ›germanischen Ritter‹ er-
mordet wurden. Am vierten Kreuzzug haben allerdings
nicht mehr als zwei unserer Landsmänner teilgenommen.
Einer davon ist in Konstantinopel ums Leben gekommen.
Aber der zweite war ein gewisser Godfryd von der Mal-
ten. Sie haben richtig gehört, meine Herren, es war ein
Vorfahre unseres Barons.«
Mock verschluckte sich an seinem Kaffee und prustete
kleine schwarze Tröpfchen auf seinen hellen Anzug. Und
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Anwaldt begann zu zittern, er fühlte, wie ihm die Haare
am ganzen Körper zu Berge standen. Beide fassten sich
und rauchten schweigend. Hartner, der die Reaktionen
seiner Gäste genau beobachtet hatte, glühte vor innerer
Freude – eine Freude, die auf recht merkwürdige Art zu
der finsteren Geschichte der Yeziden und der Kreuzzüge
im Widerspruch stand. Mock brach das Schweigen:
»Herr Direktor, mir fehlen die Worte, um Ihnen an-
gemessen für Ihr eingehendes Gutachten zu danken! Ich
bin überwältigt von den neuen Perspektiven, die sich
durch diese Geschichte für uns auftun – wie ich sehe, ist
auch mein Assistent beeindruckt. Erlauben Sie, dass wir
Ihnen noch einige Fragen stellen? Dabei wird es unver-
meidlich sein, dass wir einige Geheimnisse unserer Fahn-
dung preisgeben. Ich möchte Sie jedoch bitten, darüber
Stillschweigen zu bewahren.«
»Selbstverständlich. Ich bin bereit.«
»Aus Ihrem Gutachten geht hervor, dass der Mord an
Marietta von der Malten ein Racheakt nach hunderten
von Jahren war. Davon zeugt die blutige Schrift im Salon-
abteil, ein Zitat aus einem Werk, das niemandem bekannt
war und das gemeinhin für verschollen galt. Erste Frage:
Ist es möglich, dass Professor Andreae, der sich ja beson-
ders gut auf dem Gebiet der orientalischen Sprachen und
Handschriften auskennt, aus irgendeinem Grund dieses
Zitat nicht entziffern konnte? Wenn Sie das nämlich für
ausgeschlossen halten, dann liegt es auf der Hand, dass er uns bewusst in die Irre geführt hat.«
»Lieber
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