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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Herr Mock, das ist vollkommen klar: Andreae
    hat diese Aufschrift nicht entziffern können. Er ist in er-252
    ster Linie Turkologe, und soviel ich weiß, ist er mit kei-
    nen anderen Sprachen vertraut als Türkisch, Arabisch,
    Hebräisch, Syrisch und Koptisch. Die Chronik von Ibn
    Sahim ist jedoch in persischer Sprache verfasst. Die Yezi-
    den haben damals Persisch gesprochen, heute sprechen
    sie Kurdisch. Versuchen Sie einmal, einem Kenner der
    hebräischen Sprache – und sei es dem ausgezeichnetsten
    – einen jiddischen Text, in hebräischen Zeichen ge-
    schrieben, lesen zu lassen. Ich garantiere Ihnen, dass er, wenn er kein Jiddisch beherrscht, mit dem Text nicht das
    Geringste anfangen kann. Andreae kennt zwar die arabi-
    sche Schrift – denn türkische Texte wurden bis vor kur-
    zem nur mit arabischen Zeichen geschrieben. Aber Per-
    sisch kann er nicht. Das kann ich mit Gewissheit sagen,
    da ich bei ihm studiert habe. Er konnte also die arabi-
    schen Zeichen des Textes identifizieren, aber sicher so gut wie nichts von dessen Inhalt verstehen. Und da er um jeden Preis seinen guten Ruf als Wissenschaftler bewahren
    wollte, hat er sich ganz einfach eine ›Übersetzung aus
    dem Altsyrischen‹ aus den Fingern gesogen. Nebenbei
    bemerkt hat er so etwas schon öfter getan. Einmal hat er
    sogar eine koptische Inschrift erfunden, die dann auch
    noch Grundlage für seine Habilitation war …«
    Anwaldt meldete sich endlich zu Wort: »Wenn Maass
    der Entdecker der Chronik war, deren Verse man auf die
    Wand des Salonabteils geschmiert hat, dann hieße das,
    dass er als Mörder in Frage kommt. Es sei denn, dass je-
    mand anderer, der schon früher einmal mit diesem Text
    zu tun gehabt hatte, ihn aus irgendwelchen Gründen
    Maass zugespielt hat. Herr Direktor, hat eigentlich vor
    253
    Maass schon einmal jemand diesen Band mit den Hand-
    schriften ausgeliehen?«
    »Ich habe das Leihregister genau studiert, und ich
    kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass seit dem Jahre
    1913 niemand außer Maass diese Schrift in Händen
    gehalten hat. Länger als zwanzig Jahre werden die Leih-
    daten nicht in Evidenz gehalten. Es hat auch sicher keiner die beiden mit eingebundenen Manuskripte gelesen.«
    »Herbert!«, donnerte Mock, »Maass hat ein hieb- und
    stichfestes Alibi: Er hat am 12. Mai zwei Vorlesungen in
    Königsberg gehalten, das haben sechs seiner Hörer bestä-
    tigt. Aber ganz sicher hat er etwas mit den Mördern zu
    tun. Denn er hat uns wohl kaum lediglich aus berufli-
    chem Ehrgeiz getäuscht und den Text aus dem Salonab-
    teil vollkommen falsch übersetzt! Außerdem: Woher hat
    er gewusst, dass sich diese Handschrift in Breslau befin-
    det? Vielleicht hat er auch unseren ›Nekrolog‹ durchge-
    sehen und ist erst dadurch auf die Spur dieser persischen
    Chronik gestoßen? Aber das sind Fragen, die ich wohl
    Maass persönlich stellen sollte.« Er wandte sich an Hart-
    ner: »Herr Direktor, halten Sie es für möglich, dass je-
    mand die Handschrift gelesen hat, ohne dass sie im Regi-
    ster eingetragen wurde?«
    »Kein Bibliothekar würde eine Handschrift aus der
    Hand geben, ohne das im Register zu vermerken. Abge-
    sehen davon dürfen Handschriften nur an Wissenschaft-
    ler mit entsprechenden Referenzen von einer Hochschule
    ausgegeben werden und nur im Lesesaal benutzt wer-
    den.«
    »Er sei denn, dass der Bibliothekar mit einem der Leser
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    eine Vereinbarung trifft und die entsprechende Eintra-
    gung unterlässt.«
    »So etwas kann ich natürlich nicht ausschließen.«
    »Beschäftigen Sie jemanden in Ihrer Bibliothek, der
    Orientalistik studiert hat?«
    »Im Moment nicht. Vor zwei Jahren hat bei mir ein
    Arabist als Bibliothekar gearbeitet. Er ist aber nicht mehr bei uns, da er einen Lehrauftrag an der Marburger Universität erhielt.«
    »Wie hieß er?«
    »Otto Specht.«
    Anwaldt notierte sich den Namen. Leise sagte er: »Nur
    eine Frage lässt mich nicht los: Warum hat man Marietta
    von der Malten auf derart umständliche Weise ermordet?
    Vielleicht, weil auf ähnlich grausame Art die Kinder die-
    ses Ober-Yeziden umgebracht worden sind? Ist es viel-
    leicht so, dass die Art der Rache genau der Missetat ent-
    sprechen muss, auch wenn sie schon Jahrhunderte zu-
    rückliegt? Aber wie hat dieses Verbrechen genau ausge-
    sehen? Was steht denn darüber in der Chronik?«
    Hartner erschauerte vor Kälte und schenkte sich noch
    eine Tasse heißen Tee ein.
    »Das ist eine sehr gute Frage. Lassen wir den persi-
    schen

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