Tod in Breslau
war
sicher, dass er mit seinem Bericht das Interesse seiner
beiden Zuhörer wecken, sie sogar verblüffen würde. Er
ging im Zimmer auf und ab und entwarf im Kopf seinen
Vortrag, er legte sich die Erwiderungen auf alle Gegenar-
gumente zurecht und formulierte schließlich eine schlüs-
sige Quintessenz. Als er sah, dass seine Gäste durch die
herrschende Stille leichte Ungeduld zeigten, begann er
seine Ausführungen mit einer scheinbaren Abschwei-
fung.
»Meine Herren, in seiner ›Geschichte der persischen
Literatur‹ erwähnte Wilhelm Grünhagen ein verloren ge-
glaubtes historisches Werk aus dem vierzehnten Jahr-
hundert, in dem die Kreuzzüge beschrieben sind. Dieses
Werk, das den Titel ›Die Kämpfer Allahs und der Krieg
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gegen die Ungläubigen‹ trägt, hat angeblich ein hochge-
bildeter Perser, ein gewisser Ibn Sahim geschrieben. Jetzt können Sie natürlich sagen: Es sind schließlich schon viele Werke verloren gegangen! … was soll’s also … eine alte
Handschrift mehr oder weniger … doch diese Gering-
schätzung wäre hier nicht angebracht. Denn wenn die
Schrift des Ibn Sahim heute zugänglich wäre, dann hätten
wir nicht nur eine Quelle mehr über die faszinierende
Geschichte der Kreuzzüge. Sie wäre nämlich deshalb so
interessant, weil von einem Mann verfasst, der auf der
anderen Seite stand: von einem Mohammedaner.«
Mock und Anwaldt erfüllten die Hoffnung des Vortra-
genden völlig. Keiner von beiden hatte zwar die Altphilo-
logie zu seinem Beruf gemacht, aber die epische Breite
von Hartners Erzählung störte sie keineswegs. Das sporn-
te Hartner an. Er legte seine schmale Hand auf einen Stoß
Papier.
»Meine Herren, ein Traum vieler Historiker und Ori-
entalisten ist Wirklichkeit geworden. Was hier vor mir
liegt, ist das verloren geglaubte Werk des Ibn Sahim. Und
wer hat es entdeckt? Richtig, es war Georg Maass. Ich
weiß nicht, wie er davon erfahren hat, dass sich diese
Handschrift die ganze Zeit unkatalogisiert in der Breslau-
er Bibliothek befand, ob er selber darauf gekommen ist
oder irgendeinem Hinweis gefolgt ist. Jedenfalls ist es
nicht leicht, ein Manuskript ausfindig zu machen, das,
wie dieses hier, mit zwei anderen, kleineren, zusammen
in einem Band eingebunden ist. Kurz und gut: Diese Ent-
deckung wird Maass weltberühmt machen … umso
mehr, als er das Werk auch ins Deutsche übersetzt. Und
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ich muss zugeben, seine Übersetzung ist einerseits treu
und andererseits gleichzeitig sehr schön. Auf den Foto-
grafien, die ich von Ihnen bekommen habe, ist die Über-
tragung eines sehr interessanten Fragments dieser Chro-
nik zu sehen. Darin ist die Rede von einem makabren
Mord, den zwei Männer – ein Türke und ein Kreuzritter
– an den Kindern des Emir Al-Shausi, eines Führers der
Yeziden-Sekte, im Jahre 1205 begangen haben. Das ist
sehr verwunderlich für alle Kenner der Geschichte der
Kreuzzüge, denn der vierte Kreuzzug im Jahre 1205 ge-
langte nur bis Konstantinopel! Aber man kann wohl
nicht ganz ausschließen, dass doch einige wenige Trup-
pen in so entfernte Gebiete wie Anatolien oder sogar Me-
sopotamien vorstießen. Diese Abenteurer, die auf der Su-
che nach Reichtum waren, plünderten und raubten, was
ihnen unter die Hände kam, und nicht selten waren sie
mit den Mohammedanern äußerst gut gestellt. Häufigstes
Ziel ihrer Angriffe waren die Yeziden.«
Anwaldt verfolgte angestrengt die Ausführungen.
Mock sah auf die Uhr und öffnete den Mund, um Hart-
ner höflich zu bitten, zur Sache zu kommen. Der hatte
seine Absicht jedoch bereits erkannt:
»Ja, gleich, Herr Direktor, ich werde sofort erklären,
wer die Yeziden waren. Es handelt sich um eine recht ge-
heimnisumwitterte Sekte, deren Wurzeln bis ins zwölfte
Jahrhundert zurückreichen und die es bis heute gibt –
man hält sie gemeinhin für Satanisten. Doch das wäre ei-
ne grobe Vereinfachung. Es stimmt zwar, dass die Yezi-
den Satan huldigen, aber einem Satan, der für seine Sün-
den Buße tut. Trotz der Buße ist er jedoch immer noch
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überaus mächtig. Diesen Gott des Bösen nennen sie Ma-
lak-Taus, dargestellt wird er als ›Engel Pfau‹. Er regiert die Welt mithilfe von sechs oder sieben Engeln, auch diese wurden als Pfauen dargestellt, aus Eisen oder Bronze.
Kurz gesagt, die Religion der Yeziden ist eine Mischung
aus Islam, Christentum, Judentum und Mazdaismus, also
aller Bekenntnisse, deren Anhänger die Berge im
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