Tod in den Wolken
Madames Kunden und Kundinnen zu jenen Gesellschaftskreisen, die im Hinblick auf die Macht der öffentlichen Meinung sehr verwundbar sind. Madame Giselle besaß ihren eigenen, vorzüglich arbeitenden Nachrichtendienst, und bevor sie Geld, das heißt große Summen verlieh, trat dieser in Aktion. Ich wiederhole Maître Thibaults Worte. ‹In ihrer Art war die Verstorbene peinlich ehrlich.› Denn sie hielt denen die Treue, die ihr die Treue hielten. Ich glaube auch bestimmt, dass sie niemals ihr Wissen einsetzte, um von jemandem Geld zu erhalten, das man ihr nicht schon schuldete.»
«Sie meinen, dass dieses geheime Wissen ihre Form der Sicherheit darstellte?», forschte Hercule Poirot.
«Richtig. Und bei seiner Anwendung ging sie unglaublich grausam vor, zeigte sich taub gegen jedes Gefühl. Ihr System aber funktionierte und erwies sich als außerordentlich lohnend. Sehr, sehr selten musste sie eine ausstehende Schuld aufs Verlustkonto schreiben. Ein Mann oder eine Frau in prominenter Stellung vollbringt das Unmöglichste, um das Geld zu beschaffen, das einen Skandal verhindern wird.»
«Und wenn sie hin und wieder doch einmal einen Verlust verbuchen musste? Was dann?»
«In diesem Falle, Monsieur Poirot, wurden die Informationen, über die sie verfügte, veröffentlicht oder an diejenige Person, die die Sache anging, weitergeleitet.»
Ein Weilchen herrschte Schweigen in dem behaglich eingerichteten Raum. Dann erklang wieder die Stimme des kleinen Belgiers.
«Finanziell kam ihr das nicht zustatten?»
«Nein», erwiderte Fournier. «Wenigstens nicht direkt.»
«Aber indirekt?»
«Indirekt spornte es die anderen an, ihren Verpflichtungen nachzukommen, wie?», warf Inspektor Japp ein.
«Ja», bestätigte der Beamte der Pariser Sûreté. «Es hatte eine beträchtliche moralische Wirkung.»
«Unmoralische Wirkung möchte ich es nennen», sagte Japp grimmig. «Nun» – nachdenklich rieb er seine Nase –, «es eröffnet uns eine stattliche Reihe von Mordmotiven. Außerdem wird die Frage interessant, wer ihr Geld erbt. Können Sie uns da weiterhelfen, Monsieur Thibault?»
«Es ist eine Tochter vorhanden, die allerdings nicht mit ihrer Mutter zusammenlebte», entgegnete der Jurist. «Ich bin sogar der Meinung, dass Madame Giselle sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hat. Jedoch setzte sie vor vielen Jahren ein Testament auf, nach dem, mit Ausnahme eines kleinen Legats für ihre Wirtschafterin, alles der Tochter Anne Morisot zufällt. Alles – das bedeutet nach meiner Schätzung ein Millionenvermögen.»
Hercule Poirot spitzte seine Lippen zu einem Pfiff. «Dann wird ja Mademoiselle Anne Morisot eine sehr reiche junge Dame sein!»
«Ein Glück für sie, dass sie sich nicht in dem Flugzeug befand», sagte Japp trocken. «Sonst wäre sofort der Verdacht aufgetaucht, sie habe ihre Mutter aus dem Weg geräumt, um an die Moneten zu kommen. Wie alt ist sie denn wohl?»
«Genau weiß ich es nicht. Vermutlich vierundzwanzig oder fünfundzwanzig.»
«Hm, sie scheint mit dem Verbrechen nichts zu tun zu haben; deshalb ist es besser, wenn wir uns mit Madames Geschäften befassen. Alle Reisenden leugnen die Bekanntschaft mit ihr. Ob eine Durchsicht von Madames privaten Papieren uns weiterhilft, Fournier?»
«Mein lieber Freund», erwiderte der Franzose betrübt, «unmittelbar nach meinem Telefongespräch mit Scotland Yard begab ich mich zu ihrer Wohnung, wo sich ein Safe mit ihren Papieren befand. Doch diese waren inzwischen verbrannt worden.»
«Verbrannt? Von wem?»
«Von Madame Giselles Wirtschafterin Elise, die Anweisung hatte, den Safe, dessen Geheimnummer sie kannte, zu öffnen und den Inhalt zu vernichten, sobald ihrer Herrin etwas zustoßen sollte», sagte Monsieur Thibault, ohne mit der Wimper zu zucken.
«Was…? Aber das ist ja fast unglaublich!», rief Inspektor Japp.
«Sie sehen daran, dass Madame ihren eigenen Sittenkodex gehabt hat. Sie hielt, wie gesagt, jenen die Treue, die sich ihr gegenüber als treu erwiesen; sie war grausam, aber sie war auch eine Frau von Prinzipien.»
Japp schüttelte verblüfft den Kopf und versank dann wie die anderen drei Männer in ein längeres Grübeln über den seltsamen Charakter der toten Frau…
Endlich erhob sich Maître Thibault.
«Ich muss Sie jetzt leider verlassen, Messieurs. Wenn ich Ihnen noch mit irgendeiner weiteren Auskunft dienen kann, so stehe ich jederzeit zu Ihrer Verfügung. Meine Adresse kennen Sie ja.»
Er reichte ihnen der Reihe nach die Hand
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