Tod in den Wolken
wahrscheinlicher, als dass sie bei Giselle Geld lieh. Das Wort Gatte lässt sich in zweifacher Hinsicht deuten. Entweder erwartete Giselle, dass der Gatte die Schulden seiner Frau beglich, oder sie kannte ein Geheimnis Lady Horburys, das sie dem Gatten zu enthüllen drohte.»
«Ich neige zu der zweiten Lesart, umso mehr, als ich wetten möchte, dass die Frau, die Giselle am Abend vor dem Flug besuchte, Lady Horbury hieß. Unser kratzbürstiger Pförtner legte eine gewisse Ritterlichkeit an den Tag, und seine unentwegte Behauptung, dass er sich absolut nicht an die Besucherin erinnere, erscheint mir ziemlich viel sagend. Lady Horbury ist eine ungewöhnlich hübsche Frau. Überdies beobachtete ich, wie er zusammenfuhr – oh, nur ganz wenig –, als ich ihm ein Bild von ihr im Badeanzug zeigte. Ja, ja, es war Lady Horbury, die jenen abendlichen Besuch in der Rue Joliette machte.»
«Mit anderen Worten: Sie folgte der Giselle von Le Pinet nach Paris», sagte Fournier nachdenklich. «Hm… das sieht fast so aus, als ob sie in heller Verzweiflung gewesen sei.»
«Das mag schon stimmen», meinte Hercule Poirot in gleichgültigem Ton.
«Aber…?»
«Mein Freund, ich sagte Ihnen schon in London, dass meines Erachtens der richtige Fingerzeig auf die falsche Person hindeutet. Doch tappe ich selbst noch im Dunkeln. Mein Fingerzeig kann nicht verkehrt sein; trotzdem…» Er ließ den Satz unvollendet.
«Wollen Sie mich nicht Näheres wissen lassen, Monsieur Poirot?»
«Nein. Ich kann mich irren, vollkommen irren. Und sollte dies der Fall sein, so leite ich möglicherweise auch Sie auf ein falsches Gleis. Ihren nächsten Vermerk bitte.»
«RT 362. Doktor. Harley Street.»
«Vielleicht Dr. Bryant. Ganz dürfen wir dies bei unseren Nachforschungen nicht ausschalten.»
«Das ist Inspektor Japps Sache.»
«Und die meinige», versicherte Poirot energisch. «Ich habe nämlich auch die Hand im Spiel.»
«MR 24. Fälschte Antiquitäten. Zugegeben, es ist weit hergeholt, aber ein wenig passt es auf die Duponts. Ich glaube freilich nicht daran. Monsieur Dupont ist ein Archäologe von Weltruf.»
«Was die Sache für ihn sehr erleichtern würde. Bedenken Sie, mein lieber Fournier, wie kristallklar, wie erhaben und wie wert der Bewunderung das Leben der meisten Schwindler von Format ist, bis man ihnen auf die Schliche kommt!»
«Nur zu wahr», bestätigte der Franzose mit einem Seufzer. Dann las er seine nächste Eintragung vor: «XVB 724. Engländer. Unterschlagung.»
«Nicht sehr hilfreich», urteilte Poirot. «Wer kann unterschlagen? Ein Anwalt? Ein Bankbeamter? Jeder, der einen Vertrauensposten im Geschäftsleben bekleidet. Kaum aber ein Autor, ein Zahnarzt oder ein Doktor. Mr James Ryder ist der einzige Vertreter von Handel und Industrie. Er mag Geld unterschlagen und hinterher ein Darlehen bei Giselle aufgenommen haben, um den Diebstahl zu vertuschen. Was die letzte Notiz – GF 45. Versuchter Mord, Engländer – angeht, so eröffnet sie uns ein sehr weites Feld. Autor, Zahnarzt, Friseuse, Doktor, Steward, waschechte Aristokratin: jeder von ihnen könnte GF 45 sein. Tatsächlich sind aufgrund ihrer Nationalität, nur die Duponts ausgenommen. Es ist manchmal doch gut, Franzose zu sein…»
Er winkte den Kellner herbei und verlangte die Rechnung.
«Und was nun, mein Freund?», fragte er, als sie beglichen war.
«Zur Sûreté», erwiderte Fournier. «Vielleicht warten dort Nachrichten auf mich.»
«Schön. Ich will Sie begleiten. Anschließend habe ich eine kleine Nachforschung vor, bei der Sie mir sicher beistehen werden.»
Bei der Sûreté erneuerte Poirot die Bekanntschaft mit Fourniers oberstem Chef, dem er vor etlichen Jahren im Zusammenhang mit einem seiner Fälle begegnet war. Monsieur Gilles streckte ihm beide Hände entgegen.
«Ich bin sehr froh, dass Sie dem Fall Interesse entgegenbringen, Monsieur Poirot», versicherte er.
«Wundert Sie das? Es ereignete sich doch unter meinen Augen. Hercule Poirot schlummert, während ein Mord verübt wird!»
Monsieur Gilles schüttelte taktvoll den Kopf.
«Oh, diese mangelhaften Maschinen! Ich habe selbst ein- oder zweimal erfahren, wie wenig sie Wind und Wetter gewachsen sind.»
«Man könnte dann glauben, dass eine Armee einem über den Magen marschiert», klagte der Belgier. «Und wie die zarten Windungen des Hirns unter den Tücken des Verdauungsapparates leiden! Wenn die Seekrankheit mich packt, bin ich, Hercule Poirot, ein Geschöpf ohne graue Zellen, ohne
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