Tod in den Wolken
reiste kurz darauf – meiner Ansicht nach in Begleitung eines Mannes – nach Frankreich, während das Kind in Quebec, und zwar im Institut de Marie, zurückblieb und aufgezogen wurde. Von Zeit zu Zeit schickte die Mutter Geld und schließlich auch eine größere Summe, die dem Kind bei Erreichen des einundzwanzigsten Lebensjahres ausbezahlt werden sollte. Zu jener Zeit führte Marie Morisot oder Leman fraglos ein unstetes Leben und hielt es für besser, jede persönliche Verbindung zu lösen.»
«Wie erfuhr das Mädchen denn, dass sie Erbin eines bedeutenden Vermögens geworden ist?»
«Ich habe in verschiedenen Zeitungen diskrete Anzeigen erscheinen lassen. Die Leiterin des Institut de Marie muss eine davon gelesen und Mrs Richards benachrichtigt haben. Mrs Richards hielt sich übrigens gerade in Europa auf. Allerdings war sie im Begriff, nach Amerika zurückzukehren.»
«Wer ist Richards?»
«Ich glaube, ein Amerikaner oder Kanadier, und wie ich hörte, von Beruf Fabrikant chirurgischer Instrumente», gab Thibault zur Antwort.
«Hat er seine Frau nicht begleitet?»
«Nein, er ist noch in Amerika.»
«Vermag Mrs Richards uns irgendeinen halbwegs plausiblen Grund für die Ermordung ihrer Mutter zu nennen?»
«Nein», erklärte der Anwalt kopfschüttelnd. «Sie weiß gar nichts über die Verstorbene. Sie erinnerte sich nicht einmal des Mädchennamens ihrer Mutter, obwohl die Leiterin des Instituts ihn gelegentlich erwähnt hatte.»
«O weh», sagte Fournier traurig, «es sieht ganz danach aus, als ob ihr Erscheinen auf der Bühne uns bei der Lösung des Mordproblems nicht im geringsten hilft. Viel habe ich allerdings auch nicht davon erwartet; ich pirsche gegenwärtig in anderer Richtung. Meine Nachforschungen haben die Anzahl der verdächtigen Personen auf drei verringert.»
«Vier», ließ Hercule Poirot sich vernehmen.
«Sie meinen, es seien vier?»
«Ich meine das nicht, mein Lieber. Jedoch angesichts der Theorie, die Sie mir vorhin darlegten, können Sie sich nicht auf drei Personen beschränken.» Er zählte rasch an den Händen her. «Die zwei Zigarettenspitzen, die kurdischen Pfeifen und eine Flöte. Erinnern Sie sich nicht an die Flöte?»
Fournier stieß einen Laut der Überraschung aus, aber in dieser Sekunde öffnete sich die Tür, und ein betagter Bürovorsteher brummte: «Die Dame ist wieder da.»
«Ah, nun werden Sie die Erbin mit eigenen Augen sehen», sagte Maître Thibault. «Bitte, treten Sie näher, Madame. Darf ich Ihnen Monsieur Fournier von der Sûreté vorstellen, der die Untersuchung wegen des Ablebens Ihrer Mutter bei uns in Frankreich leitet? Und dies ist Monsieur Hercule Poirot, dessen Namen Sie vielleicht vom Hörensagen kennen, Madame Richards.»
Giselles Tochter war eine dunkle, schick aussehende junge Frau, elegant, doch unauffällig gekleidet. Sie reichte jedem der Herren die Hand und murmelte ein paar verbindliche Worte.
«Ich muss freilich gestehen, meine Herren, dass ich in dieser Sache kaum die Gefühle einer Tochter habe. Denn ich bin wie eine Waise aufgewachsen.»
In Beantwortung von Fourniers Fragen sprach sie mit Dankbarkeit und Wärme von Mère Angélique, der Leiterin des Institut de Marie. «Sie war stets die Güte selbst zu mir.»
«Wann haben Sie das Institut verlassen, Madame?»
«Mit achtzehn Jahren, Monsieur, um mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ich lernte frisieren und maniküren, arbeitete eine Zeit lang auch in einem Modesalon. In Nizza lernte ich dann meinen Mann kennen, der wenig später nach Amerika zurückkehrte. Aber seine Geschäfte führten ihn bald wieder nach Europa, nach Holland, wo wir vor einem Monat in Rotterdam heirateten. Leider musste er nach Kanada zurück, während ich noch in Europa blieb. Doch nun wollte auch ich die Reise nach drüben antreten.»
Anne Richards sprach Französisch leicht und fließend – vielleicht beherrschte sie das Französische besser als das Englische.
«Wie erfuhren Sie von der Tragödie?»
«Ich las natürlich in den Zeitungen davon, Monsieur, aber ich wusste nicht – das heißt, ich vergegenwärtigte es mir nicht –, dass das Opfer meine Mutter war. Dann erhielt ich hier in Paris ein Telegramm von Mère Angélique, die mir die Adresse Maître Thibaults nannte und mich an den Mädchennamen meiner Mutter erinnerte.»
Fournier nickte grübelnd.
Ein Weilchen noch lösten Fragen und Antworten einander ab, doch schienen sie nur zu bestätigen, dass Mrs Richards bei der Suche nach dem
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