Tod in der Marsch
landeinwärts.
Es war unangenehm nasskalt, sodass Christoph beim
Verlassen des Gebäudes unwillkürlich mit einer Hand den geknoteten Schal um
seinen Hals enger zog. Große Jäger hatte seinen obligaten Parka an und die
Kapuze in gewohnter Weise stramm um das Gesicht festgezurrt. Auch Mommsen hatte
eine Allwetterjacke an.
Gegenüber im hoch gelegenen Bahnhof stand ein
Regionalzug. Zu dieser Jahreszeit hielt lediglich zweimal am Tag ein Schnellzug
in Husum. Und dieses Privileg genoss die Stadt auch nur, weil sie an der
Strecke zwischen der Weltmetropole Hamburg und Sylt, dem Eldorado der
Schickeria, lag. Sie gingen zu Fuß und folgten dem »Damm«, der in den »Zingel«
übergeht und vor dem Bau der Umgehungsstraße die Hauptlast des Durchgangsverkehrs
tragen musste, bis zur »Schifferbrücke«. Hier, am Ende des Hafenbeckens, hatte
ursprünglich die traditionsreiche Husumer Schiffswerft ihren Standort, bevor
sie zum Außenhafen verlegt wurde und später dem allgemeinen Werftensterben
anheim fiel. In diesem Betrieb hatte auch Peter Dahl gearbeitet.
An schönen Sommertagen war der kleine
kopfsteingepflasterte Platz von Touristen überlaufen, die zwischen den Massen
orientierungsloser auswärtiger Fahrzeuge umherirrten. In dieser dunklen
Jahreszeit, kurz vor Weihnachten, diente er Ortskundigen als Parkplatz, die
seine Nähe zum Stadtzentrum zu schätzen wussten. Sie ließen die heute
verkehrsberuhigte »Hohe Gasse«, die an der »Großstraße« vorbei zur »Neustadt«
führte, rechts liegen und folgten Mommsen, der die Richtung zum Hafen
einschlug. Die kleinen Häuser lagen einsam und verlassen da. In der
winterlichen Tristesse glotzten sie mit ihren dunklen Fenstern wie Blinde auf
die drei Männer, die der menschenleeren Straße folgten.
Christoph atmete tief die salzige Luft ein. Das vom
Wind getragene feine Aerosol der Gischt befreite die Bronchien. Dazu das klare
Licht des Nordens, das immer wieder die Maler, wie beispielsweise Emil Nolde im
nahen Seebüll, angelockt und inspiriert hatte, die Weite der Landschaft, all
das prägte auch die hier lebenden Menschen. Es gab genügend Platz, niemand
musste seinem Nachbarn zu nahe kommen. Jeder ließ dem anderen genügend Raum,
zum Leben und für die Seele. Auch bei ihm stellte sich langsam das Gefühl ein,
dass dieses Land ihn in seinen Bann zog.
Sie hatten fast den Platz erreicht, an dem im Sommer
die zahlreichen Fischbuden von hungrigen Touristenscharen überfallen wurden,
als sich von hinten ein Wagen näherte. Rasch wuchs das laut hämmernde Dröhnen
der Bässe des Autolautsprechers zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. Das Fahrzeug
machte keine Anstalten, auf die Mitte der Straße zu schwenken, sondern suchte
seinen Weg nahe am Bürgersteig und steuerte eine große Pfütze an, sodass die
drei Fußgänger auf dem schmalen Gehweg dem Schwall des schmutzigen Wassers kaum
ausweichen konnten.
»Idiot!«, brüllte Große Jäger dem Wagen hinterher und
schwang seine Faust.
Als sie um die nächste Straßenecke bogen, sahen sie
den teuer aufgemotzten BMW vor
einem Haus stehen. Vier junge Männer entstiegen dem Wagen. Im schwachen Licht
einer Laterne glaubte Christoph, in dem Fahrer den jungen Mann mit Ohrring und
Augenbrauenpiercing wiederzuerkennen, mit dem Große Jäger schon einmal vor dem
Fastfood-Restaurant im Stadtzentrum angeeckt war.
Bevor Große Jäger seiner Impulsivität freien Lauf
lassen konnte, hatte sich Mommsen in den Vordergrund geschoben und war auf den
Fahrer zugegangen. In seiner ihm eigenen Art machte er dem jungen Mann
Vorhaltungen über das ungebührliche Verhalten. Der Kripobeamte hatte die Hände
demonstrativ in den Jackentaschen belassen, um jeden Anschein einer Provokation
zu vermeiden. Ebenso hatte er mit keiner Silbe seine Funktion als Polizist
erwähnt.
Der Fahrer lachte ihn schallend aus, zeigte ihm den
ausgestreckten Mittelfinger und folgte mit einem knappen, in Richtung Mommsen
gerichtetes »Du schwule Sau« seinen Kumpanen in ein nahe gelegenes Haus.
Mommsen vermied durch eisernes Schweigen eine weitere
Eskalation.
Große Jäger wollte ihm gerade Vorhaltungen wegen
seiner Zurückhaltung machen, als eine Gruppe von vier Jugendlichen mit fröhlich
lautem Geschnatter vom »Westerende« in die »Wasserreihe« einbog. Es waren junge
Leute, die sich lautstark unterhielten, aber mit Sicherheit fern jeder bösen
Absicht waren.
Große Jäger trat auf die Ahnungslosen zu, sah dem
Größten der Gruppe in die Augen und blaffte ihn an: »Hör
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