Tod in der Walpurgisnacht
Schnürsenkel hatten.
Sie rannte auf den Korridor, bog dann aber, weil der Durst sie überfiel, noch einmal in die Küche ab und trank etwas Wasser. Das Glas zitterte in ihrer Hand. Zum Glück musste sie heute nicht operieren. Ihr Magen war von dem Wein übersäuert. Ein Frühstück wäre gut, aber dazu reichte die Zeit nicht.
Sie hatten schon mit den Berichten angefangen. Fresia hatte Dienst gehabt. Hilda ließ sich nieder, ließ den Blick durch den Raum schweifen und stellte fest, dass Daniel Skotte sie wie immer anglotzte. Sie schickte ihm ein schiefes Lächeln, wollte nett sein, ihn aber nicht zu sehr ermuntern.
Ob er die Zettel geschrieben hatte? Misstrauen wuchs in ihr. War es vorstellbar, dass Daniel Skotte verschlagen genug war, um geheimnisvolle Mitteilungen in ihrem Briefkasten zu versenken? Und das nicht nur einmal, sondern mehrmals? »Ich weiß, wer du bist!« und »Ich erkenne dich wieder!«
Daniel wusste nun wirklich nicht, wer sie war, dachte sie zunehmend wütend, aber er erkannte sie durchaus wieder. Nein, das stimmte doch alles nicht!
Es gab wohl kaum eine weniger einfühlsame Person als Daniel Skotte, auch wenn er extrem kontaktsuchend war. Das passte nicht zusammen.
Hilda brach der Schweiß aus. Sie wischte sich die Stirn und starrte auf die weiße Tafel, während ihre Gedanken herumirrten. War es vielleicht doch Jens, der sie terrorisierte? Sie bereute es ein bisschen, dass sie ihm Zutritt zu ihrem Leben gewährt und ihm vertraut hatte. Wie dumm das doch war, schalt sie sich selbst.
Aber warum dann das Doppelspiel? Was nutzte Jens das? Brauchte er diesen Kitzel? Aber wer sonst hätte den Zettel um diese Uhrzeit in ihren Briefschlitz werfen sollen?, fragte sie sich und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Oder hatte er schon seit gestern Abend dort gelegen?
War Jens ein netter und freundlicher Kerl oder hinterhältig? Diese Frage verlangte eine klare Antwort. Wen konnte sie fragen, ohne preisgeben zu müssen, dass sie beide sich kennengelernt hatten? Veronika vielleicht?
Auf der anderen Seite hatte Hilda noch keinerlei Tratsch über Jens gehört. Wenn er verrückt oder den anderen suspekt wäre, hätte sich das bestimmt schon rumgesprochen.
Hilda musste wieder an Sam denken, und die Wut stieg in ihr auf, während ihr gleichzeitig ganz wehmütig zumute war, weil das alles so traurig war. Plötzlich sah sie Sams Kindergesicht vor sich, er sah einem nie ins Gesicht, sondern immer zu Boden. Sein Stolz war gebrochen worden, doch damals hatte sie natürlich nicht begriffen, dass etwas passiert war.
Kinder hatten keine Fürsprecher, weder damals noch heute. Was war mit Papa? Hatte er sich seiner Verantwortung gestellt, oder hatte er Sam im Stich gelassen? Vielleicht hatte er sich für seine Schwäche geschämt?
Sie würden es nie erfahren. Wie sehr sie sich wünschte sich rächen zu können. So einer wie Skogis durfte nicht frei herumlaufen, der gehörte eingesperrt. Oder er musste sterben. Sie wollte sich einfach nur rächen. Erzählen, wie es gewesen war, und den tadellosen Ruf vom Ehrenmann Skoglund in den Dreck ziehen. Sie waren jetzt nur noch zu zweit, Sam und sie, da konnten sie sich ruhig etwas ausdenken. Skoglund sollte nicht glauben, dass er davonkam, er würde schon sehen!
Hilda war so enttäuscht, wenn sie daran dachte, dass Papa von der Sache wusste. Dass er seinen eigenen Sohn im Stich gelassen hatte. War er so feige gewesen? Es tat weh, das Bild vom eigenen Vater korrigieren zu müssen. Warum hatte er nichts unternommen, schließlich hatte er Skogis auf frischer Tat ertappt!
Vielleicht gab es eine Erklärung, dachte sie dann versöhnlicher und hoffnungsvoller. Sie wollte ihren Vater so gern verteidigen und einen triftigen Grund für sein Verhalten finden. Wovor hatte er Angst gehabt? Stimmte das, was Sam glaubte, nämlich, dass Skogis Papa gedroht hatte, er würde seinen Job verlieren, wenn er etwas verlauten ließ? Dass er, Skogis, schlimme Gerüchte über Papa verbreiten würde? Dass niemand Papa glauben würde, wenn er die Geschichte erzählte? Hier stand Aussage gegen Aussage. Und das Wort von Skogis wog schwerer.
Hatten sich Papa und Mama darauf geeinigt, die Sache herunterzuspielen und nichts zu sagen? Hatten sie überhaupt miteinander darüber geredet? Vielleicht waren sie zu dem Schluss gekommen, dass es schlimmer sei, wenn das ganze Dorf wüsste, was Sam zugestoßen war. Ihr Sohn wäre für immer gebrandmarkt.
Mama hatte auch Angst vor Skogis gehabt. Hatte sie
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