Tod in der Walpurgisnacht
androgyn und vor allem sportlich und praktisch gekleidet.
Hilda war eine gute Beobachterin. »Du siehst alles«, sagte Britta-Stina immer. Dieser kurze Kommentar klingelte ihr immer noch in den Ohren. Manchmal klang das gut, alles zu sehen. Wie ein Lob. Doch manchmal klang es auch so, als wolle Britta-Stina sie dafür kritisieren, dass sie sich dadurch in das Leben anderer einmischte und darin herumfuhrwerkte, obwohl das niemals ihre Absicht war.
Sie konnte nichts dafür, dass sie alles sah. Es machte ihr Freude, Ereignisse zu erfassen und sich davon berühren zu lassen. Es geschah wie von selbst, eine Szene, ein Duft oder das schräg einfallende Licht am frühen Morgen über der Wiese, während das Tal sich noch in einem langen und dunklen Schatten versteckt.
Durfte Hilda selbst aussehen, wie sie wollte? Konnte sie die Grenzen ausdehnen, und wurde sie dann immer noch als seriöse und tüchtige Ärztin betrachtet?
Kapitel 19
J etzt stand zur besseren Orientierung eine geführte Tour durch Hjortfors auf dem Programm.
Claesson war in Oskarshamn geboren und aufgewachsen und kannte seine Heimatstadt in- und auswendig. Wie seine Westentasche, wenngleich er auch dort manchmal auf Überraschungen treffen konnte.
Aber Hjortfors war etwas völlig anderes, ein alter Glashütten-Ort mit seiner eigenen Geschichte.
Außerdem warteten sie auf ein Signal von Peter Berg in Linköping über eine erste Identifizierung, damit sie etwaige Angehörige informieren könnten. Es gab also ein Zeitfenster.
Wahrscheinlich war von der Leiche nicht viel übrig, wer im Feuer gelegen hatte, konnte normalerweise nur über DNA und Zahnkarte endgültig identifiziert werden, was immer ein paar Tage dauerte. Doch ein vorläufiger Bescheid war schon viel wert, und in der Zwischenzeit stellte sich vielleicht heraus, dass jemand vermisst wurde. Wenn sie Glück hatten, dann würde der Gerichtsmediziner ihnen schon jetzt eine erste Einschätzung zur Todesursache geben können. Zum Beispiel war es nicht unwesentlich zu wissen, ob der Mensch noch am Leben gewesen war, als er auf dem Scheiterhaufen landete.
Bei lebendigem Leibe verbrannt, was für ein schrecklicher Gedanke! Weder Claesson noch Lundin wollten das glauben, und sie hatten beide ganz in der Nähe des Feuers gestanden. War es ein Mann? Claesson und Lundin gingen in ihren Besprechungen davon aus, dass es sich um eine männliche Leiche handelte, aber sie hatten auch in dieser Hinsicht schon Überraschungen erlebt.
Jetzt lag ihnen erst einmal Hjortfors zu Füßen.
Claesson kannte den Ort nur oberflächlich – ein Ausflug in die Glasfabrik und zur Hütte während der Grundschulzeit und das eine oder andere Anliegen im Dienst. Lundin hingegen war hier zu Hause.
Die Straßen verliefen in einem einfachen Schachbrettmuster mit einer Hauptstraße direkt zum Ortskern, der berühmten Glashütte, deren hoher Schornstein von überall zu sehen war. Lundin schlug vor, an der Kirche zu beginnen, die am westlichen Rand des Dorfes stand. Sie setzten sich ins Auto und fuhren langsam durch relativ leere Straßen dorthin, parkten und stiegen aus. Die weißen Kalkwände leuchteten in der Sonne, der Turm hatte ein mit Grünspan bedecktes Kupferdach mit einem Kreuz auf der Spitze. Sie spazierten über den Friedhof, der gut gepflegt und von einer dicken Steinmauer umgeben war.
»In Småland sind viele Steine geerntet worden«, kommentierte Claesson.
»Ja«, bestätigte Lundin, »das war armselig und mühsam. Heute fällt es schwer, sich das vorzustellen.«
Sie lasen ein paar Inschriften und kamen auf die große Auswanderungsbewegung nach Amerika zu sprechen, die Mitte des 19. Jahrhunderts begann und sich weit bis ins 20. Jahrhundert hinein fortsetzte. Das Land reichte nicht aus, um alle Mäuler zu stopfen. Der Frieden, die verbesserte Hygiene und die Einführung der Kartoffel hatten zur Folge, dass die Bevölkerungszahlen stiegen. Mit der Trockenheit kamen Missernten, und dann gab es keine Arbeit auf den Höfen, und die Menschen wurden auf die Straße hinausgetrieben. Viele sahen in der Auswanderung nach Amerika die einzige Lösung.
»Wir Småländer haben doch jeder irgendwelche Verwandte in den USA «, sagte Claesson.
»Das glaube ich auch«, stimmte Lundin zu.
Sie verließen die Kirche wieder und fuhren an der Tischlerei vorbei, die Särge herstellte. Das Schild war strahlend neu, und unter dem Firmennamen war eine Webadresse zu sehen. Der Betrieb lag an der Stromschnelle, die früher die
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