Tod in der Walpurgisnacht
jeden deckte, das war in ihrem Bezirk der Normalzustand. Sie hatten ebenso mit Misstrauen wie auch mit übertriebener Redseligkeit zu tun. Auch jetzt würden ganz sicher nach und nach die Hinweise eingehen, und viele davon anonym.
Sie waren auf dem Weg zum Gemeindehaus Folkets Hus. Lena Jönsson, die zusammen mit dem jungen Patrik Johansson am Feuer Wache geschoben hatte, hatte ihnen telefonisch mitgeteilt, dass sie in diesem Haus ihre Verhöre durchführen konnten. Die Gemeinderätin Kerstin Dahl hatte sich bereit erklärt, höchstselbst mit den Schlüsseln vor der Tür zu warten.
Claesson bat Lena Jönsson, dafür zu sorgen, dass sie aus dem Polizeihaus in Oskarshamn die notwendigen Dinge bekamen. Aufnahmegerät, leere Formulare und Ordner und vielleicht einen Laptop. Sie versprach, sich darum zu kümmern.
»Womöglich ist die Brieftasche in der falschen Jacke gelandet, und Skoglund lebt und marschiert in Oskarshamn im Zug zum Ersten Mai!«, sagte Claesson.
»Das wäre wirklich ein Ding!«, erwiderte Lundin und verzog den Mund ein wenig. »Früher ging der Zug durch Hjortfors«, ergänzte er verträumt.
»Ach so?«
»Da brauchte man nicht bis nach Oskarshamn zu fahren. Hier marschierten ziemlich viele Leute mit, im Grunde alle Glasarbeiter, außer denen, die Schicht hatten und aufpassen mussten, dass die Öfen n icht ausgingen. Bis in die Sechzigerjahre hat man in den meisten Hütten noch mit Holz angefeuert«, erzählte Lundin und bog langsam auf den Platz vor dem Folkets Hus. »Die Gewerkschaft war damals stark, aber ihre Kompromissbereitschaft war auch schon recht groß, denn es hatte lange Zeiten gegeben, in denen ihre Verhandlungsposition wegen der Absatzprobleme für das Glas nicht sonderlich gut gewesen war. Der Tod der Glashütten, du weißt schon, die Glasarbeiter kämpften für bessere Arbeitsbedingungen, hier ging es um Löhne und Akkordarbeit und Pausen. Den Achtstundentag gab es ja schon länger.« Er verstummte abrupt. »Kannst du dich erinnern, wann der eingeführt wurde?«
»War das nicht irgendwann gegen Ende des Ersten Weltkriegs?«, fragte Claesson.
»Genau«, nickte Lundin. »Da kann man mal sehen, heute können viele verdammt froh sein, wenn sie nur acht Stunden arbeiten müssen. Heute kommt es auf die Flexibilität an, von jedem wird erwartet, dass er zu Hause noch weitermacht und sich mit dem Laptop auf dem Schoß totarbeitet.«
Claesson holte seinen Kalender aus der Innentasche der Jacke. Er war zu warm angezogen, er schwitzte und sehnte sich inzwischen noch mehr nach einer Dusche, als er es am Morgen getan hatte.
»Immerhin ist der Erste Mai der einzige nicht christliche Feiertag«, sagte er.
»Abgesehen vom Nationaltag, den wir ja kürzlich noch dazubekommen haben«, ergänzte Janne Lundin.
Das Folkets Hus war ein rotes Holzhaus, das einen neuen Anstrich vertragen konnte. Der Eingang war an der Ecke, die zur Straße wies. Draußen wartete eine lange Reihe leerer Fahrradständer. Die Gemeinderätin Kerstin Dahl hatte den Schlüssel vom Hausmeister geholt, und Claesson fragte nicht weiter nach, ob das Umstände gemacht hatte, denn ihre ganze Körpersprache signalisierte, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um der Polizei die Arbeit zu erleichtern.
»Das ist wunderbar hier«, verkündete Claesson und nahm den Schlüssel entgegen. »Wir sind Ihnen sehr dankbar! Wohnen Sie auch in der Nähe?«
»Ja, im Grunde nur um die Ecke. Ich kann dafür sorgen, dass Sie Kaffee bekommen, wenn Sie möchten.«
Claesson sah zu Lundin, der nickte.
»Das wäre ganz toll.«
»Es wäre ja schön, wenn sich die Sache aufklären ließe«, sagte sie. »Der Ort möchte doch lieber für sein schönes Glas bekannt sein als …« Sie schluckte. »Und dann werde ich dafür sorgen, dass jemand die psychologische Betreuung übernimmt. Allerdings ist Feiertag, und ich bin nicht sicher, ob im Pfarrhaus jemand da ist«, sagte sie, während Claesson aufschloss.
Stimmt, die ganze Sache mit der psychologischen Betreuung, die neuerdings, wenn so ein Ereignis eintraf, angeleiert werden musste, hatte er ganz vergessen.
»Das klingt alles sehr gut«, sagte er. »Wir werden eine Pressemitteilung herausgeben, sowie wir etwas mehr wissen.«
Ein muffiger Geruch, typisch für öffentliche Räume, die nur von Zeit zu Zeit benutzt wurden, schlug ihnen entgegen. Wände und Fußboden waren abgenutzt, der Widerhall von der hohen Decke war trocken und ohne Klang, und wie er feststellen musste, lief die
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