Tod in Innsbruck
absoluter Unfähigkeit der Polizei, von der größten Demütigung aller Zeiten, von einer Beschmutzung der Wahrzeichen ihrer Stadt, einer Bedrohung des Tourismus und so weiter. Heisenberg hatte die penetrante Dame schließlich mit ein paar Standardsätzen abgefertigt. Aber ihre Vorwürfe saßen tief.
Er blickte in die Runde. »Lasst uns rekapitulieren. Wir müssen von vorne anfangen und haben keinen Tatverdächtigen. Dafür vier Mordopfer, zwei Männer, zwei Frauen. Wobei wir nicht sicher sein können, dass die Leichenteile vom Gramartboden wirklich dazugehören.«
»Weil wir den Torso nie gefunden haben und nicht wissen, ob er auch tätowiert ist«, warf Mitterhofer ein.
»Richtig. Und weil die Einstiche im Oberschenkel fehlen, die bei den anderen drei Opfern vorhanden sind«, sagte Heisenberg. »Vielleicht konzentrieren wir uns zuerst einmal auf die Gemeinsamkeiten der drei letzten Fälle.«
»Die Tätowierung. Wir müssen sie entschlüsseln.« Wurz setzte sein Siegerlächeln auf. Ich hab’s ja gleich gesagt, verkündete dieses Lächeln.
»Die Tätowierung scheint tatsächlich ein zentraler Punkt zu sein«, räumte Heisenberg ein. »Ich will, dass ihr euch alle die Fotos genau anschaut. Und dann sagt mir jeder von euch, was er damit assoziiert.«
Er nahm einen Stapel Fotos vom Schreibtisch und reichte ihn herum.
»Für mich ist das ein Code, den wir entschlüsseln sollen«, platzte Wurz heraus. »Die Zeichen könnten Buchstaben einer alten Schrift sein. Runen, Keilschrift, Hieroglyphen, was weiß ich.«
»Für eine Schrift sehen die Zeichen zu unterschiedlich aus«, widersprach Bartsch. »Bei Briguglia haben wir grüne Rhomben und rote Dreiecke, alle schwarz konturiert. Außerdem schwarze Schnörkel und Wellenlinien. Bei Sofronsky besteht die Tätowierung aus geraden Linien, liegenden Dreiecken ohne Basis und kleinen blauen Kreisen mit schwarzem Rand. Der Torso weist die größte tätowierte Fläche auf. Rote Punkte und rote Pfeile über einem schwarzen Gitter, schwarze Wellenlinien und eine Zeichnung, die wie eine blaue Schraffur aussieht und aus parallelen Strichen besteht, die von links nach rechts dichter werden.« Bartsch schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung, was das sein soll.« Er gab die Fotos an Mitterhofer weiter.
Der warf nur einen kurzen Blick darauf. »Für mich ähnelt es den Schnittmustern meiner Verlobten. Sie ist Änderungsschneiderin.« Er lachte verlegen.
Linda, die die leeren Kaffeetassen einsammelte, warf im Vorübergehen einen Blick auf die Fotos. »Könnte es moderne Kunst sein?«
»Was?«, fragten Heisenberg und Wurz gleichzeitig.
Linda errötete. Sie murmelte eine Entschuldigung und huschte hinaus.
»Moderne Kunst«, wiederholte Heisenberg und überlegte krampfhaft, ob ihm in den bisherigen Recherchen jemand untergekommen war, der mit Kunst zu tun hatte. Eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf, aber er konnte sie nicht fassen.
Er war unkonzentriert. Seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem Fernsehauftritt am Abend. Und vorher musste er nochmals mit der Meyring sprechen, deren Enthaftung er schon beantragt hatte.
Er verteilte die Aufgaben für die nächste Zeit. Bartsch sollte die Analysen der Proben in der Kriminaltechnik überwachen. Mit endgültigen Ergebnissen der bei Briguglia gefundenen Spuren rechnete er in ein bis zwei Tagen. Mitterhofer durfte ein Team von Polizistenkollegen leiten, das den Hinweisen nachgehen würde, die nach Heisenbergs Fernsehauftritt zu erwarten waren. Er war stolz auf diese Aufgabe. Wurz hatte sich bereit erklärt, in Sachen Tätowierung und moderner Kunst zu recherchieren.
Heisenberg löste die Besprechung auf.
»Lasst mich nicht im Stich, Leute«, murmelte er. Aber da waren sie schon alle gegangen.
Linda teilte ihm mit, dass Vera Meyring soeben entlassen und zu einer abschließenden Befragung hergebracht wurde.
Sein Magen schmerzte. Er hätte den Kaffee nicht trinken sollen. Ächzend stand er auf und ging ans Fenster. Am Himmel zog eine Schar Wildenten schnatternd in Richtung Inn. Als sie längst verschwunden waren, starrte Heisenberg noch immer auf den Fleck am Horizont. Es klopfte.
* * *
Der Kripochef stand am Fenster und drehte Vera den Rücken zu. Seine Gestalt wirkte geschrumpft. Er drehte sich um und knurrte eine Begrüßung. Dann musterte er sie ausgiebig. Auf dem violett schillernden Fleck an ihrem Unterarm und an der aufgeplatzten Lippe blieb sein Blick hängen. Seine buschigen Brauen zogen sich
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