Tod in Lissabon
schraubte die Täfelung mit seinem Taschenmesser ab. In dem Rahmen steckte ein dickes, von Gummibändern zusammengehaltenes Aktenbündel.
»Wissen Sie, wie das aussieht?«, sagte JoJó. »Wie eine Lebensversicherung.«
»Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte ich zu ihm. Er wollte nicht. »Ich sage Ihnen das zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
»Wenn das, was Sie da gefunden haben, der Bär ist«, sagte er auf dem Weg zur Tür, »dann erlegen Sie ihn.«
Auf das Deckblatt der Akte hatte Gonçalves Oliveira/Rodrigues geschrieben. Das war der einzige handschriftliche Eintrag, und als wir die Akte aufklappten, erkannten wir auch den Grund. Offenbar war Dr. Aquilino Oliveira der Auftraggeber und Miguel da Costa Rodrigues der Auftrag. In der Akte befanden sich drei dicke Dossiers über jede Bewegung, die Miguel Rodrigues zwischen dem 30. August des vergangenen Jahres und dem 9. Juni diesen Jahres gemacht hatte. Neun Monate Komplettüberwachung. In den letzten fünf Monaten hatte er nur drei Freitagmittage in der Pensão Nuno ausgelassen.
»Was hast du denn da?«, fragte ich Carlos.
»Fotos. Fotos von Mädchen auf der Straße mit einem Datum auf der Rückseite. Vermutlich Mädchen, die sich Rodrigues gekauft hat.«
»Sie sind alle blond«, stellte ich fest.
»Und die Letzte?«
»Catarina Oliveira.«
Ich zuckte heftig zusammen. Carlos zog eine Augenbraue hoch.
»Ich habe mich bloß gerade gefragt, was für ein Mensch Dr. Oliveira sein muss«, sagte ich, »um seine eigene Tochter als Köder und Opfer in einem Mord einzuplanen, der einem anderen angehängt werden sollte.«
»Nicht seine eigene Tochter.«
Ich presste meine Handballen auf die Augen, sagte kein Wort und rührte mich fünf lange Minuten nicht. Als ich die Hände wegnahm, wirkte das Licht im Raum seltsam gedämpft, als ob der Herbst schlagartig in den Winter übergegangen wäre.
»Werde ich auch eingeweiht?«, fragte Carlos, der mir gegenübersaß und jung und unbekümmert aussah.
Ich hatte gedacht, dass ich an dieser Stelle aufhören, die Akte zerschreddern und davongehen könnte. Dass ich es schaffen würde, die ursprüngliche und allseits akzeptierte Version der Ereignisse hinzunehmen und weiterzuleben. Doch ich konnte es nicht, ich musste mir Gewissheit verschaffen, ich musste mich vergewissern, dass Luísa Madrugada nichts damit zu tun hatte. Und wenn ich das nicht tat, würde ich wach neben ihr im Bett liegen und ihr beim Schlafen zusehen, einer von Millionen Männern, der zu jener letzten Hingabe nicht bereit war und es sogar wusste.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Carlos, der meine Entscheidungsschwäche spürte.
»Hast du die handschriftlichen Notizen über Catarinas Fall aufbewahrt?«
»Irgendwo müssen sie noch sein, aber es steht doch alles in den Berichten.«
»Das sollte man meinen, aber wir beide wissen, dass das nicht der Fall ist. Nicht alles, und ich muss jetzt alles wissen. Ich will jede Kleinigkeit über Catarinas Fall, und ich werde alles zehnmal von vorne bis hinten durchlesen. Und morgen fahren wir ins Gefängnis von Caxias und besuchen Miguel da Costa Rodrigues.«
»Was soll der uns denn noch erzählen?«
»Unter anderem, warum ihn seiner Ansicht nach irgendwer neun Monate lang hat beschatten lassen.«
Ich machte früh Feierabend und nahm die Akte sowie Carlos’ Notizblöcke mit nach Hause, wo ich alles mehrmals durchlas, bis es spät und dunkel und ich hungrig geworden war. Im A Bandeira Vermelha aß ich ein schnelles Steak und trank zwei Tassen Kaffee, bevor ich wieder nach Hause ging und die Papiere erneut hin und her schob. Olivia kam gegen elf nach Hause und ging direkt ins Bett. Ich öffnete eine neue Schachtel Zigaretten.
Um Mitternacht hatte ich die ersten zarten Ansätze von drei Ideen. Die erste hatte etwas mit Daten und Zeitpunkten zu tun, doch mir fehlten einige Informationen. Die zweite war deutlich interessanter, doch ich brauchte ein Foto, das ich in der Akte zu Catarinas Fall nicht fand.
Für die dritte Idee brauchte ich die Hilfe von Senhora Lurdes Rodrigues und ein weiteres Foto, das ich nicht hatte. Ich ging zu Bett und schlief nicht.
Carlos war schon im Büro, als ich am nächsten Morgen ankam. Kurz vor Ende der Nacht war ich von sechs bis sieben Uhr eine Stunde lang fest eingeschlafen und fühlte mich wie gerädert. Ich beauftragte ihn, den Hochzeitstag von Dr. und Senhora Oliveira in Erfahrung zu bringen, während ich in der Personalabteilung der Polícia Judiciária nach Lourenço
Weitere Kostenlose Bücher