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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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Himmel, und sein Anblick ließ sie an die Reise denken, die sie sich vorgenommen hatte. Der Himmel über Marseille würde genauso blau sein, und sicher würde der Winter dort später kommen.Vielleicht könnte sie den Winter über dort bleiben und so die dunklen Tage im Norden umgehen. Plötzlich stoben die Vögel über ihr auf. Sie sah ihnen nach, bis sie hinter einem Scheunendach verschwanden. Nie wusste man, was so einen Schwarm in Bewegung setzte.
    Auf der Fähre, die sie zurück über die Elbe brachte, waren nur wenige Passagiere: Ein junges Paar mit einem Kind, das im Kinderwagen lag und so fest schlief, als hätten die Eltern ihm von dem Bier abgegeben, das sie in der Hand hielten, und ein alter Mann, der vorn an der Reling stand und sein Gesicht in den Wind hielt. Er trug eine verblichene Kapitänsmütze und eine dunkelblaue Jacke.
    So steht der immer da, sagte der junge Mann zu Bella, der ihren Fahrschein kontrollierte. Er hat eine Monatskarte. Fehlt nur noch, dass er die Kommandos gibt. Versucht hat er es, hat mir ein Kollege erzählt, aber das hat man ihm abgewöhnt.
    Abgewöhnt?, fragte Bella
    Die Leute haben ihn ausgelacht. Seitdem fährt er das Schiff stumm.
    So, in Begleitung des trinkenden Paares, des stummen Kapitäns und des schlafenden Säuglings erreichte sie die Landungsbrücken. Der Lärm der Stadt nahm sie wieder auf. Die Portugiesen in der Ditmar-Koel-Straße waren damit beschäftigt, Tische und Stühle vor den Lokalen abzuwischen. Sie warteten auf die abendliche Kundschaft. Sicher würden die Menschen den schönen Herbstabend draußen verbringen wollen. Vom Turm der Michaeliskirche war die Trompete des Türmers zu hören, als sie das Ende der Straße erreicht hatte.
    Den folgenden Tag verbrachte Bella noch einmal mit Lesen. Sie hatte fünf Romane von Izzo gelesen und auch Anna Seghers’ Transit . In ihrem Kopf hatte Marseille langsam Gestalt angenommen. Noch immer war der Himmel, der sich in ihrer Einbildung über der Stadt spannte, blau, aber ein Gefühl von Traurigkeit, ja von Schwermut, das nicht zu dem blauen Himmel passen wollte, verstärkte sich langsam.
    Man hatte mir unterwegs erzählt, den gerissenen Häschern, die im Bahnhof von Marseille zum Menschenfang angestellt seien, könne kein Fremder durch’s Netz gehen … Ich stieg zwei Stunden vor Marseille aus dem Zug … ich kam von oben her in die Bannmeile von Marseille. Bei einer Biegung des Weges sah ich das Meer, tief unten zwischen den Hügeln … (die Stadt) erschien mir so kahl und weiß wie eine afrikanische Stadt.
    Beim Lesen war ihr mehr und mehr deutlich geworden, dass sie auch in Marseille mit den dunklen Seiten der deutschen Geschichte konfrontiert werden würde. Damit hatte sie sich abgefunden. Gab es überhaupt ein Land in Europa, das von deutschen Untaten unberührt geblieben war? Aber sie wollte aufpassen, dass die Vergangenheit nicht das Heute verdunkeln würde. Auch deshalb hatte sie sich Fotografien besorgt, die die besondere Schönheit der Stadt und des sich anschließenden Küstenstreifens zeigten. Sie freute sich auf die Calanques, eine Felsenküste, in deren Einbuchtungen kleine Ansiedlungen und versteckte Häfen lagen. Sie kannte das Leben in dieser Gegend nun aus den Büchern von Izzo und Del Pappas. Sie wollte unbedingt dorthin. Das würden gute Orte sein, die sie davor bewahren könnten, in die ewige Schwermut zu verfallen, von der bei Anna Seghers die Rede war.
    Auf ihren letzten abendlichen Wanderungen durch Hamburg vor ihrer Abreise stieß sie auf Plakate, die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Städtepartnerschaft Hamburg/Marseille ankündigten. Sicher gab es solche Festivitäten auch in Marseille. Würden sie einen Strom von Touristen aus Hamburg anziehen? War es richtig, gerade jetzt dorthin zu fahren?
    Sie überlegte eine Weile und rief dann ihren Freund Kranz an, den sie lange nicht gesehen hatte. Die Verbindung zwischen ihnen war schon immer Schwankungen unterworfen gewesen. Allzu große Nähe hatte ihnen beiden nicht gefallen. Dadurch waren die Abstände, in denen man sich nicht sah, manchmal größer, ohne dass eine besondere Absicht damit verbunden gewesen wäre.
    Kranz schien sich zu freuen, von ihr zu hören. Sie verabredeten sich für den Abend.
    Ich werde ein wenig früher da sein, dachte Bella. Ich will ihn beobachten, wenn er ankommt. Seine Stimme hört sich an, als sei er alt geworden.
    Sie saß dann, im Rücken einen dieser Heizpilze, die die Bürgersteige der Stadt in

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