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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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einer der Afrikanerinnen, die gerade mit einem Gast den Raum verließ. Der Mann hatte seine Hand auf den Hintern der Frau gelegt. Nissen sah, was sie sah, und lächelte.
    Ich bin als großzügiger Gastgeber bekannt, sagte er leise.
    Wenn ich noch Polizistin wäre, würde ich mir die Aufenthaltsgenehmigungen der Frauen zeigen lassen.
    Sie können sicher sein, dass die in Ordnung sind. Seien Sie doch keine Spielverderberin. Wenn diese Frauen erst einmal hier sind, können sie nur als Putzfrauen arbeiten oder eben als Huren. Sie sollten sie fragen, was ihnen lieber ist.
    Ich sollte gehen, antwortete Bella. Sie sprach laut. Ich werde ungern in ein Bordell eingeladen. Es gefällt mir nicht, wie Sie und Ihre Gäste die Notlage dieser Frauen ausnutzen.
    Leben Sie wohl, sagte Nissen. Ich hatte Sie für großzügig gehalten. Afua wird Sie hinausbegleiten.
    Nissens Gäste beachteten den kleinen Wortwechsel nicht. Niemand sah sich nach ihr um, obwohl sie absichtlich sehr laut gesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte sie von Anfang an gestört, und alle waren froh, dass sie die Gesellschaft verlassen wollte. Sie ging zur Tür, hörte Pieter hinter sich und blieb noch einmal stehen.
    Versteh doch, sagte Pieter leise. Er ist ein Kunde, ein guter Kunde. Musst du denn so ein Theater machen? Ich kann jetzt nicht einfach weggehen.
    Ist schon in Ordnung, sagte Bella. Ich finde sehr gut allein nach Hause.
    Vor der Tür überlegte sie, ob sie ein Taxi rufen sollte. Nein, sie würde bis Hochkamp gehen und dann mit der S-Bahn zurückfahren. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, noch einmal durch die Gegend zu wandern, in der sie selbst lange gelebt hatte; so lange, bis ihr Haus abgebrannt war, angesteckt von unvorsichtigen Friedensaktivistinnen. Aber je länger sie an parkartigen Gärten und dezent beleuchteten Villen vorüberging, desto schneller wurde ihr Schritt. Sie fühlte sich unwohl.
    Was für ein Theater, dachte sie. Ich hab mich benommen wie eine Sittenwächterin. Peinlich. Du verkommst langsam, Bella Block. Du brauchst wirklich dringend Tapetenwechsel. Lass diese Stadt hinter dir. Geh irgendwohin, wo du die Menschen nicht kennst. Du brauchst einen fremden Blick, eine fremde Umgebung, um wieder zu dir selbst zu finden. Am besten geh irgendwohin, wo keine Touristen sind.
    Sie rief nun doch ein Taxi, das sehr schnell zur Stelle war, und ließ sich nach Hause bringen. Dort goss sie sich einen Wodka mit Orangensaft ein und machte es sich für ihre abendliche Lektüre bequem. Es war Zufall, dass auf dem Bücherstapel neben ihrem Lesesessel Jean-Claude Izzo obenauf lag. Sie blätterte und las:
    Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit. Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren. Dafür oder dagegen sein. Leidenschaftlich sein. Erst dann wird sichtbar, was es zu sehen gibt. Und dann ist man, wenn auch zu spät, mitten in einem Drama. Einem antiken Drama, in dem der Held der Tod ist. In Marseille muss man sogar kämpfen, um zu verlieren.
    Marseille, dachte Bella, weshalb nicht Marseille. Mit oder ohne Drama. Nur weg von hier.

Bella
    Den Rest der Nacht verbrachte Bella damit, Literatur über Marseille zusammenzusuchen. Gegen Morgen lag ein ansehnlicher Bücherstapel neben ihrem Lesesessel, obenauf Anna Seghers, darunter Izzo, Pavese, Walter Benjamin, Wolfgang Koeppen und Del Pappas. Sie wollte sich gründlich auf diese Reise vorbereiten. Nach kurzem Schlaf wachte sie gegen Mittag frisch und tatendurstig auf. Die nächsten Wochen waren mit Lesen ausgefüllt. Sie musste sich zwingen, ein Mal am Tag einen längeren Spaziergang zu machen, um beweglich zu bleiben. Ein sanftes, leuchtendes Herbstwetter machte ihr die Spaziergänge aber zunehmend leichter. Einmal, an einem frühen Vormittag, fuhr sie über die Elbe und wanderte in Finkenwerder umher. Sie kam an einem Birnbaum vorüber, der sicher dreißig Meter hoch war und in dessen Laub, bis hinauf zur Spitze, unzählige gelbe Birnen leuchteten. Der Anfang des Hölderlin-Gedichts »Hälfte des Lebens« fiel ihr ein:
    Mit gelben Birnen hänget
    Und voll mit wilden Rosen
    Das Land in den See …
    Auch Rosen blühten in den Gärten. Noch während sie unter dem Baum stand, ließ sich ein Schwarm Wacholderdrosseln in seinen Ästen nieder. Sie beobachtete eine Weile, wie sich die Vögel auf die Birnen verteilten. Es waren sehr viel mehr Birnen da als Vögel. Durch das Geäst schimmerte ein blauer

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