Tod in Marseille
Parador.
Selbstverständlich war der Bürgermeister damit einverstanden, dass Gerd-Omme Nissen die Hamburger Delegation einen Tag früher verließ als die übrigen Mitglieder.
Sie haben hier wirklich getan, was Sie konnten, mein lieber Nissen. Nun müssen Sie sich um Ihre eigenen Geschäfte kümmern. Ich drücke die Daumen, dass die Mariella wieder auftaucht. Wie viele Leute waren an Bord, sagten Sie?
Fünf, antwortete Nissen. Sie verstehen, dass ich mich um die Angehörigen kümmern muss, egal wie die Sache ausgeht.
Gerd-Omme Nissen flog zurück nach Hamburg. Die Verhandlungen mit den Versicherungen zogen sich hin, aber sie wurden zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen. Weder vom Schiff noch von der Besatzung hatte sich die geringste Spur ausmachen lassen.
Ein paarmal träumte Gerd-Omme Nissen schlecht, besonders als ihm mitgeteilt wurde, dass der russische Kapitän eine Frau und drei kleine Jungen zurückließ. Mit den schlechten Träumen kam ihm allerdings auch die Idee, nach dem Abschluss aller Untersuchungen eine Trauerfeier zu Ehren der ertrunkenen Seeleute auszurichten. Von dieser Feier sprachen die Angestellten der Reederei Nissen und die Angehörigen der Toten noch lange. Die Reederei hatte weder Mühe noch Kosten gescheut. Sogar einige Verwandte der Philippinos hatte man ermitteln können. Sie nahmen an der Feier teil, ganz in Weiß, heimlich von allen anderen Gästen beobachtet. Weinten sie? Wusste man denn, ob diese Leute wirklich Verwandte waren? Die sahen alle so gleich aus!
Nissen hielt eine Rede, der alle ergriffen lauschten, auch die Familie des Russen, die Mutter des tschechischen Ingenieurs und die Philippinos, die kein Deutsch verstanden. Man nahm allgemein an, dass sich in den Umschlägen, die anschließend den Angehörigen überreicht wurden, Geld befand. In Wirklichkeit enthielten sie Gutscheine für einen Urlaub auf Mallorca, was aber, da die Angehörigen aus Takt den Umschlag währendder Trauerfeier nicht öffneten und nach der Trauerfeier niemand mehr Kontakt mit ihnen hatte, nicht bekannt wurde.
Es dauerte etwas länger als ein Jahr, bis alle mit dem Schiffsunglück verbundenen Angelegenheiten geregelt waren. Erst dann sah Nissen sich in der Lage, noch einmal, zum letzten Mal, Kontakt mit Julien Grimaud aufzunehmen. Er schrieb dem Polizisten im Sommer eine Karte aus Vence, auf der er ihm mitteilte, dass er in den nächsten zehn Tagen dort zu erreichen sei. Auf der Karte war das Hotel Diana abgebildet, sodass Grimaud davon ausgehen konnte, ihn dort zu treffen.
Grimaud war es während der vergangenen Monate gelungen, die Dienstaufsichtsbeschwerde, die die italienischen Kollegen eingereicht hatten, dadurch zu unterlaufen, dass er selbst Untersuchungen über mögliche Mafia-Aktivitäten im Hafen in Gang setzte. Er sah keine Gefahr mehr, seit er wusste, dass die Mariella vor Montevideo untergegangen sein musste.
Das wusste er, weil er große Anstrengungen unternommen hatte, von Nissen etwas über das Schicksal der Seeleute an Bord zu erfahren. Er musste so oft an diese Männer denken, dass er schließlich wissen wollte, wie Nissen sich in dieser Sache verhalten hatte. Nissen hatte keine Ausreden erfunden, sondern ihm die Wahrheit gesagt. Und die Wahrheit war: Er hatte Kapitän und Mannschaft die Erlaubnis gegeben, in der Bucht von Montevideo von Bord zu gehen und eine Besichtigungsfahrt zu den Resten der untergegangenen Graf Spee zu unternehmen. Während die Leute unterwegs waren, sollte das Schiff explodieren. Der Kapitän hatte ihn dann angerufen, um ihm zu sagen, dass sie den Ausflug nicht unternehmen könnten, weil Sturm aufgekommen sei und sie es nicht riskieren wollten, mit dem kleinen Boot zur Graf Spee hinüberzufahren. Was hätte er, Nissen, tun können, um die Leute trotzdem dazu zu bewegen, von Bord zu gehen? Was hätte er tun können, ohne sich selbst verdächtig zu machen? Nichts.
Den Polizisten Julien Grimaud hatte dieser Bericht mehr aufgewühlt, als er sich eingestehen wollte. Als er versucht hatte, seine Wut Nissen gegenüber loszuwerden, war der allerdings so kalt geblieben, dass er verstummt war. Es war nicht so, dass Nissen ihm gedroht hätte, aber es war wohl besser gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Inzwischen war so viel Zeit vergangen, dass sich auch sein Gewissen beruhigt hatte. Und war er nicht die treibende Kraft, die inzwischen gewissen Mafiosi in Marseille unruhige Nächte verschaffte?
Grimaud fuhr mit dem Zug von Marseille nach Antibes und nahm
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