Tod in Seide
Interieur, auf dessen Anblick wir nicht vorbereitet waren.
Da es im unmittelbaren Umkreis keine Hochhäuser gab, hatte man von hier einen Blick über die Dächer der benachbarten Galerien und Garagen bis hinüber zum Hudson River, der sich ein paar Blocks weiter südlich gen Osten schlängelte Was uns allerdings am meisten beeindruckte war, dass ungefähr drei Stockwerke unter uns ein Gleisabschnitt der Hochbahn das luftige Atrium der Galerie in nordsüdlicher Richtung durchschnitt. Die wuchtige Struktur war total verrostet und mit Unkraut bewachsen.
»Sind die echt?«, fragte ich, während ich darauf starrte.
Chapman war ganz hin und weg. »Ich wünschte mir, mein alter Herr könnte das sehen. Natürlich sind die echt. Schau!« Er deutete zu einer Öffnung in der Mauer, wo die Gleise durch die Glaswand aus dem Gebäude hinaus- und über die Straße in ein gegenüberliegendes Lagerhaus hineinführten.
Ich beugte mich über das Geländer und sah, dass die grasüberwucherten Schienen auch auf der Nordseite der umgebauten Garage hinausliefen, die Twenty-third Street überquerten und dort in Richtung Norden zwischen zwei Gebäuden verschwanden.
»Was sind das für Gleise?«, fragte Mercer.
»Die alte Hi-Line Railroad. Noch eine Besonderheit der Hell’s Kitchen. Als man die Schienen nördlich des Güterbahnhofs in der Death Avenue auf die Trasse anhob, brauchte man aber immer noch Züge, die zu den Fleischmärkten in der Gegend um die Fourteenth Street fuhren. Also wurde dies südlich der Thirtieth Street die Hochbahn. Sind euch die alten Gleise noch nie aufgefallen?«
Mercer und ich sahen Mike verdutzt an und schüttelten den Kopf.
»Fahrt nur mal die Tenth Avenue Richtung Uptown und schaut nach links. Der Luftraum über den Gleisen ist verkauft worden, also konnte man all diese Lagerhäuser um die eigentliche Hi-Line-Trasse herumbauen. In jeder Straße zwischen der Thirtieth und Twentieth Street und weiter hinunter nach Süden bis zum alten Gansevoort Market kann man diese großartigen Gleise von der Straße aus sehen.«
Daughtry kam aus seinem Büro im südwestlichen Eck des Stockwerks und sah zu uns herüber. »Beeindruckend, nicht wahr? Wir sind als einzige Galerie in der Stadt so klug, dieses Stück Geschichte in unser Design zu integrieren. Freut mich, dass Sie wenigstens das zu schätzen wissen.«
Er bat uns in sein Büro, in dem es eiskalt war. Angesichts der Temperaturen in der klimatisierten Galerie überraschte es mich, auf Daughtrys Stirn Schweißperlen zu sehen. Wiederholt tupfte er sich den Schweiß ab, der ihm den Hals hinunterlief.
Nachdem wir uns vorgestellt hatten, bat er uns, gegenüber von ihm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz zu nehmen. Es gab keine Anzeichen für seine früheren Indiskretionen, und obwohl Daughtry durchaus Ähnlichkeit mit den Fotos hatte, die ich während des Gloster-Prozesses in der Presse gesehen hatte, hatte er seitdem einen Bauch angesetzt und sein vormals spitzes Kinn war jetzt von Hängebacken eingerahmt.
»Ich bin mir sicher, Sie wissen alles über meine Vergangenheit, Detective«, begann er vorsichtig, während er unruhig von einem zum anderen blickte und abzuschätzen versuchte, wie feindselig wir ihm gesonnen waren und wie viel wir über ihn wussten. Seine Hände zitterten, sobald er sie auf den Schreibtisch legte, also wischte er sich unaufhörlich und oft völlig grundlos den Schweiß vom Gesicht und vom Nacken. »Aber Sie müssen wissen, dass ich Deni Caxton angebetet habe, und ich möchte alles tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen.«
Chapman ließ sich von Daughtrys Versuch, einen hilfsbereiten Ton anzuschlagen, nicht beirren. Ich lehnte mich zurück, wie ein Gast, der das Privileg hat, bei einem Verhör anwesend zu sein, ohne selbst daran beteiligt zu sein. Da Mike die Angreifbarkeit seines Zeugen spürte, wusste er, dass er, im Gegensatz zu unserer Unterhaltung mit Lowell Caxton, das Gespräch kontrollieren konnte.
Mike ließ Daughtry in dem Glauben, dass, falls er uns sein Herz über die Steuersache ausschüttete, wir ihn damit in Ruhe lassen und uns Denis Tod zuwenden würden. Es schien Daughtry zu beruhigen, uns von der Steuerangelegenheit erzählen zu können, auch wenn er uns nichts sagte, was wir nicht bereits wussten; wahrscheinlich glaubte er, wir würden eine bessere Meinung von ihm haben, wenn er seine Missetaten offen eingestand.
Mike verrückte seinen Stuhl, so dass er Daughtry direkt gegenüber saß. »Also, Bryan« –
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