Tod in Wolfsburg (German Edition)
für ihre Klassenkameradin Nelli!«
»Manchmal werden andere Dinge wichtiger, gerade in dem Alter.
Außerdem kennen Sie doch die anderen Mädchen kaum, wie Sie gerade selbst
erklärt haben. Oder habe ich da etwas missverstanden?«
Hansens Blick wechselte zweimal zwischen Aufnahmegerät und Johannas
Gesicht hin und her. Die Kommissarin verzog keine Miene.
»Sprechen Sie sich ruhig ganz offen aus.«
Der Lehrer beugte sich vor. »Ich glaube ganz einfach, dass das
Mädchen zufällig in eine dumme Geschichte geraten ist. Außerdem war Karen kein
Junkie – das hätte man doch eher gemerkt!«
»Die anderen sind bislang in dieser Sparte auch nicht auffällig
geworden.«
Hansen zuckte mit den Achseln. »Wie Sie meinen. Sie wollten meine
Ansicht hören.«
»Richtig.« Johanna lächelte. »Und ich bin froh, dass Sie so offen
sind. Was können Sie mir eigentlich zu Betty Flint sagen?«
»Betty? Was hat die damit zu tun?«
Johanna hob beide Hände. »Keine Ahnung – sagen Sie es mir! Waren
Karen und Betty miteinander befreundet?«
»Tja, schwer zu sagen. Betty ist ziemlich scheu und introvertiert.
Die beiden haben in letzter Zeit nebeneinandergesessen und auch mal ein Referat
zusammen erarbeitet. Ich will nicht ausschließen, dass sich daraus
freundschaftliche Nähe entwickelt hat, aber sicher bin ich nicht. Dazu müssten
Sie wohl das Mädchen persönlich befragen – allerdings fehlt sie heute.«
Die Pausenglocke unterbrach das Gespräch in volltönendem Dreiklang.
Johanna hielt einen Augenblick die Luft an, so intensiv war das Déjà-vu-Gefühl.
Nur Sekundenbruchteile später krachten Türen, und Stimmengewirr hallte durch
das Gebäude. Kreischen, Schritte, Lachen. Die Cafeteria wurde erobert.
Stühlescharren.
»Mit wem wollen Sie als Nächstes sprechen?«, fragte Hansen, als
draußen ein gleichmäßiger Lärmpegel erreicht war.
Johanna lächelte. Hansen hatte die Nase voll. Sie wollte seine
Geduld nicht überstrapazieren, darum entschied sie, ihn fürs Erste in Ruhe zu
lassen. Sie betätigte die Stopptaste des Aufnahmegeräts und überlegte kurz.
»Mit Nelli. Sagen Sie ihr bitte nicht, worum es geht.«
8
Sie lauschte einen Moment an der Tür und vergewisserte sich,
dass niemand im Hausflur war. Dann schlüpfte sie hinaus, um mit wenigen
Schritten die Treppe zum Dachboden hinaufzueilen. Das Schloss knarrte leise.
Rabea blieb einen Moment stehen, um ihre Augen an das trübe Halbdunkel zu
gewöhnen, und zog die Tür behutsam hinter sich zu. Nur noch wenige Mieter
hängten ihre Wäsche zum Trocknen auf dem Boden auf – die alte Schmidt mit den
Stützstrümpfen aus dem ersten Stock zum Beispiel und manchmal auch der Dicke
von unten. Rabea hörte ihn immer die Treppe hochschnaufen, und später war die
Wäscheleine voller Unterhosen in XXL ,
daneben Socken in undefinierbarem Grau, von denen man nicht vermutete, dass sie
jemals frisch gewaschen gewesen seien. Die meisten Hausbewohner hatten sich ein
Plätzchen gesichert, wo sie einen kaputten Stuhl, ein ausrangiertes Regal oder
auch Koffer und Kartons lagerten, für die in der Wohnung oder auch im Keller
kein Platz mehr war. An der dicken Staubschicht konnte man erkennen, dass die Sachen
schon lange niemanden mehr interessierten und in Vergessenheit geraten waren.
Am linken Giebelende stand ein uralter, wuchtiger und mitsamt eines
Aufsatzes an die drei Meter hochragender Küchenschrank, der die gesamte Breite
des Dachbodens einnahm. An einer Seite befanden sich Schubladen und Fächer, an
der anderen war eine Tür eingelassen. Rabea lauschte erneut, bevor sie die Tür
öffnete. An einer Garderobenstange hingen Arbeitsklamotten und Regenjacken, am
Boden reihten sich Stiefel und einige Kartons mit Schulbüchern und Ordnern auf.
Rabea schob die Bügel beiseite, bückte sich und tastete an der rückwärtigen
Wand nach einem kleinen Riegel. Wenig später ließ sich die Wand ein Stück zur
Seite schieben und gab den Zugang zu einem kleinen abgetrennten Raum frei, in
dem eine Matratze mit einigen Decken und Kissen, eine Holzkiste und ein kleines
Regal Platz hatten: das Krähennest. Sie zog die Schranktür zu, schob die Wand
wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück und trat an das runde
Dachlukenfenster, um den Ausblick zu genießen.
Rabea war vor über zehn Jahren, als sie sieben war, mit ihren Eltern
und den drei älteren Halbbrüdern aus der ersten Ehe ihrer Mutter in das
dreistöckige Mehrfamilienhaus aus den 1960er Jahren im Krähenhoop, dem
südlichen Teil der
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