Tod ist nur ein Wort
hatte länger gehalten als erwartet, und viel länger würde es nicht andauern. Beim ersten Schnee wäre er tot. Und der kündigte sich bereits an.
Aber bevor sie ihn bekamen, hatte er nicht übel Lust, Harry Thomason die Kehle durchzuschneiden. Um der alten Zeiten willen.
12. KAPITEL
S ie war fort. Natürlich. Er ahnte es bereits, als er den winzigen Fahrstuhl bestieg, doch er fuhr trotzdem hinauf, um sich zu vergewissern. Im Apartment war es dunkel, und sie hatte ein Fenster offen gelassen. Eisige Luft wehte winzige Schneeflocken herein, sodass er das Fenster schloss. Bevor er das Licht einschaltete, zog er die Vorhänge zu. Er wusste nicht, ob er beobachtet wurde, aber er wollte kein Risiko eingehen.
Es gab keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens, kein Blut. Ihre Kleider waren da, doch jemand hatte seine Garderobe durchwühlt, und sein Mantel fehlte. Falls sie sie mitgenommen hatten, hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, sie anzuziehen. Sie hätten sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie mitzunehmen – sie läge einfach tot auf dem Bett.
Was bedeutete, dass sie freiwillig gegangen war und er nicht länger für sie verantwortlich war. Er hatte sie gewarnt, hatte aus irgendeinem verrückten Grund ihr Leben gerettet. Er hatte sogar seine Tarnung für sie gefährdet, ob er es zugeben wollte oder nicht. Und sie ignorierte seine Anweisungen und verschwand. Doch im Grunde konnte er ja froh sein, sie los zu sein.
Sie hatte das Apartment ziemlich gründlich durchsucht, was ihn überraschte. Was hatte sie zu finden gehofft? Vielleicht hatte sie es doch geschafft, ihn an der Nase herumzuführen, und war nicht die Unschuld, die sie zu sein vorgab. Doch dann erinnerte er sich an den Ausdruck in ihren Augen, als sie gekommen war, und wusste, dass sie nichts zurückgehalten hatte. In der Beziehung hatte Harry Thomason recht. Niemand konnte ihm die Wahrheit vorenthalten, nicht wenn er sie herausfinden wollte.
Sie hatte die Drogen gefunden, sie aber nicht angerührt. Er bewahrte sie für Notfälle auf – als gängige Ware für Informanten, die kein Geld brauchten. Er steckte sie ein und ging dann mit stiller Gründlichkeit durch das Apartment, wobei er jede Oberfläche sorgfältig abwischte. Einen DNA-Experten konnte das nicht aufhalten, doch es gab keinen Grund, warum ein solcher zum Einsatz kommen sollte. Es gab keine Leiche, keine Anzeichen eines Verbrechens. Nur einen mysteriösen Mieter, der verschwunden war und der seine Kleidung und Toilettenartikel, aber nicht einen einzigen Fingerabdruck hinterlassen hatte.
Hätte er gründlich sein müssen, hätte er Feuer gelegt. Das Apartment war im obersten Stock – die meisten Menschen würden unverletzt entkommen. Aber ein Feuer würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Besser war es, einfach fortzugehen – von dem anonymen Apartment und von der lästigen Erinnerung an Chloe Underwood und ihr wohlverdientes Schicksal.
Als ihn die feuchte kühle Nachtluft traf, zog er seine Jacke enger um sich und verfluchte seinen ungebeteten Gast, der ihm nicht nur nicht gehorcht, sondern auch seinen Mantel mitgenommen hatte. Mit gesenktem Kopf ging er weiter und ließ auch den Wagen zurück. Zu viele Menschen hatten ihn gesehen, und es gab keine Spuren daran, die zu seiner wahren Identität oder zum Komitee führten.
Es war fast Mitternacht, als er die verrauchte Bar an der Rue de Rosiers betrat. Seine dritte Anlaufstelle an diesem Abend – er hatte in der Nähe der Oper gegessen und danach in einem dieser kleinen Clubs gespielt, die sein derzeitiges Alter Ego gerne besuchte. Und nun fand er sich in der schmuddeligen kleinen Bar im Marais wieder, einem Bollwerk gegen die Schickeria, die das Viertel in den letzten Jahrzehnten erobert hatte.
“Etienne!”, begrüßte ihn der Barmann, als sich Bastien durch die Menge gekämpft hatte. “Was führt dich hierher? Wie lang ist es her? Zwei Jahre? Ich dachte, du wärst tot.”
“Es ist schwer, mich umzubringen”, erwiderte er und verfiel dabei automatisch in Etiennes gutturalen Marseiller Akzent. “Wie geht’s dir, Fernand?”
Fernand zuckte die Achseln. “Man schlägt sich durch. Was möchtest du trinken? Stehst du immer noch auf diesen russischen Wodka?”
Tatsächlich hatte Bastien Wodka nie sonderlich gemocht, doch er nickte freundlich, setzte sich auf einen Hocker an der Bar und zog seine Gitanes heraus.
“Wie ich sehe, hast du die Marke gewechselt.” Fernand nickte in Richtung der Schachtel. “Ich dachte, du
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