Tod ist nur ein Wort
Glas standen neben ihm auf dem Boden. Sie hatte keine Ahnung, seit wann er schon da war und wie lange sie geschlafen hatte.
“Warum hast du dich anders entschieden?”, fragte sie unvermittelt. Sie zog die Decke zu ihrer Brust hoch, rückte von ihm ab und setzte sich in die Ecke. Dann bemerkte sie, dass sie seinen Mantel zwischen den Fingern hielt, und ließ ihn abrupt los.
“Mich anders entschieden?”
“Was mich angeht. Ich habe viel Zeit mit Monsieur Hakim verbringen müssen, und er redet gerne, während er Menschen quält. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte er gar nicht gewusst, dass ich im Internet recherchiert hatte. Und er wäre nicht davon überzeugt gewesen, dass ich jemand anders war als die, die ich bin.”
“Jemand anders als die, die du bist? Und wer wäre das?” Er wartete ihre Antwort nicht ab. “Sobald Hakim dir misstraute, konnte ich nichts mehr dagegen tun. Dass ich ihm deine plumpen Spuren am Computer gezeigt habe, hat die Sache nur beschleunigt.”
“Warum also hast du dich anders entschieden und mich gerettet?”
“Das habe ich nicht.”
Ihr war kalt, eiskalt, doch sie griff nicht nach seinem Mantel. “Warum warst du dann dort? Wolltest du nur zuschauen?”
Er zuckte die Achseln. “Ich war überrascht, dass du noch lebtest. Hakim muss viel Spaß mit dir gehabt haben, dass er dich kaum angerührt hat.”
“Kaum angerührt hat?” Ihre Stimme wurde schrill, und er bewegte sich wie der Blitz in der Dunkelheit, legte ihr eine Hand auf den Mund und drückte sie gegen die Wand. Es war nicht lange her, dass er sie schon einmal gegen eine andere Wand gedrückt hatte, und sie fragte sich, was er jetzt tun würde.
“Bleib leise”, sagte er und starrte ihr in der Dunkelheit in die Augen. So nah. “Versuch, nicht so dumm zu sein, wie man nach deinem Verhalten annehmen muss.”
Er zog seine Hand weg, und sie schaute wortlos zu ihm hoch. Wartete darauf, dass er sie berührte. Er würde sie küssen, und sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde.
Doch er tat es nicht. Er zog sich zurück, setzte sich wieder ihr gegenüber auf den Boden. “Ich wollte Hakim in einer anderen Angelegenheit sprechen, sah, dass du noch am Leben warst und tötete ihn aus einer Laune heraus.”
“Aus einer Laune heraus?”
Er zuckte auf eine sehr französische Art die Achseln, trotzdem glaubte sie nicht, dass er Franzose war. “Resultat meiner Todessehnsucht, nehme ich an. Ich bin, wie es aussieht, sowieso bald dran, und dass ich dich dort rausgeholt habe, beschleunigt die Dinge nur ein wenig. Als du heute abgehauen bist, hätte ich dich einfach gehen lassen sollen, aber ich war zu verärgert. Wenn ich mir schon so viel Mühe mache, kannst du wenigstens tun, was ich sage.”
“Ich war noch nie sehr gehorsam. Ich wäre nicht hier in Paris, wenn ich nicht daran gewöhnt wäre, das zu tun, was ich will.”
“Es ist mir völlig egal, was du willst. Du fliegst zurück in die Staaten und dort bleibst du. Verstanden?”
Eigentlich wollte sie nichts lieber als das, doch ihr innerer Teufel ließ sie widersprechen. “Und wenn ich mich weigere?”
“Dann schneide ich dir die Kehle durch und lasse dich hier liegen. Es wäre schade, weil ich deinetwegen schon so viel Arbeit hatte. Dieses Zeug, mit dem ich deine Wunden behandelt habe, ist ziemlich wertvoll, und ich hätte es nicht verschwendet, wenn ich gewusst hätte, dass ich dich ein paar Stunden später umbringen müsste. Aber das hält mich nicht davon ab. Du bist eine Belastung, eine Nervensäge und eine Gefahr, und vielleicht hätte ich Hakim niemals aufhalten sollen, aber da ich es nun mal getan habe, will ich es auch zu Ende bringen. Es liegt an dir. Willst du jetzt sterben und es hinter dir haben? Oder möchtest du zurück zu deiner Familie und ein normales Leben führen?”
Er sprach so ungerührt über den Tod und das Töten, dass sie nicht den leisesten Zweifel hegte, dass er tun würde, was er sagte. Sie musste nur in seine dunklen leeren Augen sehen. “Woher weiß ich, dass ich bei dir sicher bin?”
“Das weißt du nicht. Es gibt keine Garantien im Leben. Aber du hast mit mir definitiv eine bessere Chance als allein. Und falls ich versage, verspreche ich dir, dich zu töten, bevor du jemandem in die Hände fällst, der schlimmer ist als Hakim. Ich mache es schnell und schmerzlos.”
Chloe schluckte und zögerte kurz, bevor sie fragte: “Gibt es schlimmere Menschen als Hakim?”
“Tatsächlich sind die wahren Spezialisten des
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