Tod und Leidenschaft (German Edition)
Unterrock. Sie musste sich etwas beeilen, denn die kalte Nachtluft in dem ungeheizten Zimmer hatte sie dazu verführt, etwas länger im Bett liegen zu bleiben, als eigentlich gedacht.
Sie entschied sich den mit Pferdehaar versteiften Unterrock anzuziehen, denn er gab ihrem Kleid nicht nur Stand, sondern auch die nötige Wärme für den Tag.
Wann sie wohl Gelegenheit bekommen würde, diese Sache richtig zu stellen … Wahrscheinlich nie. Andererseits … Wenn ihre Theorie stimmte, würde der Mörder abermals zuschlagen. Aber wieso sollte Harris sich dann an sie wenden?
Den Flanell- Unterrock musste sie über den Kopf ziehen und dabei aufpassen, dass sie ihre Frisur nicht in Unordnung brachte. Sie hatte keine Lust, noch mehr Zeit zu verlieren, indem sie mit dem Zopf von vorne begann.
Elizabeth konnte ihm ja nichts mehr sagen, das er nicht schon wusste. Wenn sie es ganz richtig betrachtete, war sie nach ihrer Aussage über den Diebstahl aus dem Bild verschwunden …
Vorsichtiger noch als den Flanell- Unterrock zog sie jenen über, der ihr kostbarster Besitz war: einer mit mehreren bestickten Volants am Saum. Elizabeth atmete durch. Wenn ihr nur irgendetwas einfiele … Irgendein Grund, um ihn aufzusuchen. Dafür hätte sie auch den weiten Weg nach Westminster auf sich genommen. Nach Ladenschluss. Und das Risiko, ihn nicht anzutreffen.
Indem sie ihre Unterröcke hinten anhob, setzte sie sich aufs Bett, um die Stiefel anzuziehen. „Mistdinger“, knurrte sie leise und wünschte sich sehnlichst das Geld, um sich passende Stiefel zu kaufen. Aber sie konnte ja froh sein, wenn die Sohlen durchhielten, bis sie wieder Geld zum Besohlen übrig hatte …
Die Schnürsenkel waren bereits abgenutzt und sie musste sie vorsichtig binden, um sie nicht zu zerreißen.
Jetzt den schwarzen Überrock und die schwarze Jacke. Ihre Finger waren etwas steif und so machte es ihr einige Probleme, die kleinen Knöpfchen vorne zu schließen.
Eine vornehme Lady müsste man sein, dachte sie. Dann hätte ich jetzt eine Zofe, die sich dieser kleinen Teufelsdinger annimmt …
Harris Frau hatte bestimmt eine.
Ein Ruck ging durch Elizabeth hindurch und eine düstere Wolke hatte sich schlagartig in ihrem Herzen gebildet. Ob er verheiratet war? Sie rief sich sein Bild vor ihr inneres Auge und suchte seine linke Hand nach einem Ehering ab. Sie konnte keinen entdecken. Aber möglicherweise hatte sie auch nur nicht darauf geachtet und deswegen bot ihre Erinnerung ihr jetzt kein Bild von seiner Hand.
Natürlich – ein Mann in seinem Alter und seiner Position musste einfach verheiratet sein.
Ihr Herz zog sich zusammen und verursachte einen dumpfen Schmerz, den sie nicht verstand. Warum stimmte sie dieser Gedanke nur so traurig?
Sie setzte vor dem lediglich aus einer größeren Scherbe bestehenden Spiegel ihre Haube auf und band sie unter dem Kinn fest. Dann das Cape um die Schultern.
Elizabeth straffte die Schultern. Ein langer, harter Tag lag vor ihr. Wenn auch nicht zu vergleichen mit dem Tag, der vor so vielen anderen Frauen ihrer Schicht lag, die in die Fabrik gehen mussten und gleichzeitig noch eine Horde Kinder versorgen.
Sie wollte gerade zur Tür gehen, als sie den näherkommenden Singsang eines Zeitungsjungen vernahm.
„Was ruft der da?“, sagte sie laut und ging eilig zu ihrem Fenster. Es war trüb vom Ruß und so musste sie es öffnen, um besser zu sehen und zu hören.
„Das Schlachten geht weiter! Panik in Whitechapel!“ Das Schlachten geht weiter? Sie war wie elektrisiert.
Sie hatte Recht gehabt! RECHT!!!!
Grundgütiger! Der Mörder hatte weitergemacht!
Mit fliegenden Röcken eilte sie die kleine hölzerne Stiege ins Erdgeschoss und verließ so schnell sie konnte das Haus.
„Was rufst du da, Junge?“ Sie hielt den kleinen, dürren Burschen an der Schulter fest.
„Hat es noch einen Mord gegeben?“ Sie war atemlos und ihr Gesicht glühte vor Aufregung.
„Kaufen se sich halt ne Zeitung, Miss!“, gab er missmutig zurück.
Elizabeth ließ ihn los. Das Geld hatte sie nicht. Mit der über den ersten Mord hatte sie sich schon bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht.
Aber vielleicht konnte ja Mr. Lewinsky eine kaufen …
So schnell ihre Füße in den zu engen Stiefeln es zuließen, eilte sie in die Lime Street.
Manchmal musste sie kleine Hüpfer machen, um einen besonders schmerzenden Fuß zu entlasten, ohne dabei stehen zu bleiben.
Undamenhaft atemlos erreichte sie den Laden. Die Straßen waren gefüllt mit
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