Tod und Leidenschaft (German Edition)
Menschen und wo sie auch lauschte: es schien kein anderes Thema zu geben, als den Mörder von Whitechapel. Und wenn sie die Leute richtig verstand, so hatte er diesmal schlimmer gewütet, als beim letzten Mal.
Ihr Herz raste, als sie das Atelier betrat, wo Mr. Lewinsky saß und nähte, als gebe es keine Welt da draußen.
„Guten Morgen, Mr. Lewinsky. Haben sie schon gehört?“ Schnaufend hängte sie ihr Cape an den Nagel und legte die bodenlange Schürze an.
Er blickte mit ausdruckslosem Gesicht zu ihr auf.
„Guten Morgen, mein liebes Kind. Nein, habe ich nicht. Aber so echauffiert wie du bist, muss es etwas höchst Aufregendes sein …“
Der klang seiner Worte machte deutlich, dass es nichts gab, was er noch nicht gesehen hatte und auch nichts, dass ihn noch aus der Fassung bringen konnte.
„Der Mörder, Sir. Er hat wieder zugeschlagen. Die Zeitungsjungen brüllen es im Dutzend durch die Straßen und die Leute haben kein anderes Thema mehr!“
Er senkte den Kopf wieder über die Arbeit und sagte leise, wie zu sich selbst:
„Diese Wachsblumen sind auch nicht mehr, was sie einmal waren.“
„Mister Lewinsky! Wie können sie an Wachsblumen denken, während dort vor unserer Tür ein Schlächter sein Unwesen treibt?“ Sie war ehrlich empört, was sie dazu verleitet hatte, die Grenze des Respekts ein kleinwenig zu überschreiten.
„Nun, mein liebes Kind. Insofern, als du und ich von diesen Blumen leben, sollten wir uns natürlich zuerst um diese kümmern!“
Seine Nadel stach durch den winzigen Stiel einer Blüte.
„Wir werden uns nach einem neuen Lieferanten umsehen müssen.“
„Ja. Verzeihen sie, Mr. Lewinsky.“
Jetzt lächelte er.
„Na na, mein liebes Kind. Ihre jungen Augen haben noch nicht viel gesehen. Und so erscheint ihnen ein solcher Mord aufregend. Ich aber bin ein alter Mann und muss sagen, dass ein Mensch einem anderen nichts antun kann, das ich noch nicht gesehen hätte.“
Dass er noch immer lächelte, irritierte Elizabeth.
„Wie können sie da lächeln?“
„Vielleicht ist es meine Art, mit Verzweiflung umzugehen …“, erwiderte er freundlich.
Elizabeth erinnerte sich der nicht bezahlbaren Zeitung.
„Natürlich weiß ich so gut wie nichts über den neuen Mord, sonst könnte ich ihnen davon berichten und sie könnten sehen, ob die Tat sie nicht dennoch überrascht.“
Es war ein etwa zu offensichtliches Manöver, wie sie sich augenblicklich selbst gestehen musste und sie ärgerte sich etwas, dass sie nicht dezenter vorgegangen war.
Sein Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an, als er sagte: „Das wäre natürlich wirklich interessant … das herauszufinden, meine ich. Schauen sie mal in die Kasse. Es ist noch keine Kundschaft zu erwarten … Wäre es da wohl möglich, dass sie hinauslaufen und sehen, ob sie mir eine Zeitung besorgen können? Nur wegen des Vergewisserns natürlich.“
Elizabeth zog nicht mal ihr Cape an, sondern flog förmlich aus dem Laden.
Da die Zeitungsjungen sich diese Chance auf glänzende Verkäufe nicht entgehen lassen wollten, eilten sie mit dicken Zeitungspacken über den dünnen Armen in Dutzenden durch die Straßen.
Minuten später war Elizabeth wieder im Atelier.
„Nun? Ich schlage vor, sie lesen mir den Artikel vor, während ich hier weitermache …“
Elizabeth setzte sich auf den kleinen Schemel und hielt die Zeitung dicht vor ihre Augen, da das Licht im Atelier auch am Tag sehr schlecht war und nur von Mr. Lewinskys Arbeitslampe ausging.
„In der vergangenen Nacht wurde eine weitere Frau vom Whitechapel- Mörder hingeschlachtet. Das Verbrechen, das in seiner Brutalität noch jenes übertrifft, welches die unglücklich Mrs. Nicols getroffen hat, geschah in einem Hinterhof der Hanbury Street. Seit Entdeckung der grausigen Tat haben sich große Menschenmengen vor dem inzwischen von der Polizei abgesperrten Zugang zu jenem Hof versammelt, die von der Polizei nur mit Mühe zurückgehalten werden können.
Die Ermordete wurde in den frühen Morgenstunden aufgefunden. Den Unterleib grauenvoll verstümmelt und mit durchgeschnittener Kehle. Wie wir von Augenzeugen erfahren haben, hat der Schlächter die Eingeweide der Unglücklichen auf deren Schultern …“ Elizabeth hielt inne und starrte ihren Chef entsetzt an. Dieser hatte den Kopf gehoben und die Nadel schwebte in der Luft.
„Gott im Himmel“, stieß Elizabeth hervor.
Lewinsky sagte kein Wort.
Sie sammelte sich einen Moment, suchte dann die Zeile, in der sie angehalten
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