Tod und Schinken: Krimi (German Edition)
an der B236 zwischen Horn und Detmold. Die hauseigene Werbebroschüre ist seit Jahren nicht mehr erneuert worden, das Layout entspricht dem Zeitgeist der Neunziger.
Die sterilen Bilder zeigen lachende Greise, die wahrscheinlich schon längst unter der Erde liegen. Der Text ist sachlich bis nichtssagend. Wo sich andere Häuser, Residenzen und Heime mit platten Werbesprüchen zu übertrumpfen versuchen, wie »Pflege in besten Händen«, »Fachlich kompetente Pflege mit persönlicher Note«, »Im Mittelpunkt des Lebens« oder auch »Gestalten Sie Ihr Leben neu!«, spricht der Prospekt des Seniorenzentrums St. Agnes in sachlich zurückhaltendem Ton von sich als »Seniorenhaus mit einem vielseitiges Programm und umfassendem Pflegeangebot«. Es steht tatsächlich »vielseitiges« statt »vielseitigen«. In all den Jahren ist es niemandem aufgefallen. Und wenn, so hat sich keiner verantwortlich gefühlt, die leicht angestaubt wirkenden Prospekte zu korrigieren oder gar durch neue, modernere zu ersetzen.
»Leicht angestaubt«, das ist auch mein erster Eindruck, als ich aus dem Linienbus steige und von der anderen Straßenseite aus das Gebäude zum ersten Mal betrachte. Es ist im schmucklosen Sechzigerjahre-Kastenstil erbaut. Nachträglich hat man Balkone angebracht. Auf eine einheitliche Begrünung wird kein Wert gelegt. An manchen Balkonen sind am Geländer Blumenkästen angebracht. Nur die wenigsten sind mit Blumen bepflanzt. Die meisten davon mit Stiefmütterchen.
Hinter der Hälfte der Fenster brennt Licht. Meist ist es grell und neonweiß. Hinter einem Fenster flackert es. Dort ist die Lampe defekt. Wie lange wohl schon?, frage ich mich, und ich habe vor meinem inneren Auge das Bild eines im Tode erstarrten Patienten, der von Spinnweben umgarnt darauf wartet, dass jemand kommt und die Birne wechselt.
So schlimm wird es schon nicht sein, denke ich, aber seit damals, als wir Omma Frederike im Altenheim besuchten, war ich in keiner solchen Einrichtung mehr.
Ich gebe mir einen Ruck und überquere die Straße. Es gibt an dieser Stelle eine Ampel und einen Zebrastreifen, wohl in der weisen Voraussicht, dass es Besucher gibt, die nicht so gut zu Fuß sind wie ich.
Der Eingang wirkt altbacken. Der steinerne Bogen über dem gläsernen Eingang hat im wahrsten Sinne des Wortes etwas Aufgesetztes.
Unwillkürlich atme ich noch einmal tief durch, bevor ich die Glastür aufdrücke und in die Empfangshalle trete. »Halle« ist vielleicht übertrieben, denn die Decken sind heruntergezogen worden und mit Holzverstrebungen verziert. Die dort eingelassenen Strahler verbreiten ein angenehm gedämpftes Licht. Gedämpft werden auch meine Schritte. Der dicke braune Teppich verschluckt jedes Geräusch.
Das alles hat eindeutig den leicht morbiden Charme der Siebzigerjahre. Und trotzdem bin ich angenehm überrascht. Es hat tatsächlich mehr von einer Hotellobby als von einem Altenheim.
Insassen sehe ich keine, die meisten sitzen wahrscheinlich beim Frühstück. Eine junge, braun gebrannte Frau mit kurzen weißblonden Haaren sitzt hinter dem Empfangstresen und schaut mir freundlich entgegen. Als ich sage, dass ich Journalist bin und mich auf die Suche nach der verschwundenen Lotte Unverzagt begeben will, klappt ihre freundliche Maske herunter wie ein Visier, und sie wechselt in den Geschäftsmodus.
»Frau Unverzagt ist leider noch nicht gefunden worden«, erklärt sie. »Alles andere müssen Sie schon die Polizei fragen.«
»Aber sie hat doch hier gewohnt? Im ersten Stock. Zimmer einhundertdrei?«
»Ja, das stimmt«, antwortet sie. »Möchten Sie unseren Prospekt mitnehmen?«, fragt sie dann.
»Gerne.«
Sie reicht ihn mir herüber. Ich reiche ihr im Gegenzug meine Visitenkarte. »Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein«, sage ich. »Auf der Karte stehen meine Telefonnummer und meine E-Mail-Adresse.«
Sie weist sie zurück. »Behalten sie die ruhig. Ich glaube nicht, dass mir noch etwas einfällt. Was glauben Sie, wie viele Visitenkarten ich seitdem schon bekommen habe?«
»Aber ich hätte gern eine«, sagt eine heisere Stimme hinter mir.
Ich fahre herum und sehe einen alten Mann, vornübergebeugt auf einem Rollator. Ich schätze den Mann auf über neunzig. Sein Gesicht besteht nur noch aus pergamentener Haut, die sich über die Knochen spannt. Sein klapperdürrer Körper steckt in einem schwarzen Anzug, der ihn umschlottert wie die Lumpen an einer Vogelscheuche.
Der Alte grinst böse, als er sieht, dass er mich allein durch
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