Tod und Schinken: Krimi (German Edition)
weiter. Und wieder stieß sie gegen etwas. Vorsichtig tastete ich die Konturen ab und war mir sicher, dass es ein Gesicht war. Das Wesen zuckte nicht mehr vor mir zurück. Es hielt still.
Meine Hand forschte weiter, strich über langes, volles Haar, einen pochenden Hals und breite Schultern. Ich fühlte den Ansatz der Brüste und hielt inne.
Vor mir kniete eine Frau.
Und sie war nackt.
Sofort dachte ich an die Kälte. Sie musste frieren. Viel mehr als ich. Ich zog meine Jacke aus, legte sie ihr um die Schultern. Sie griff danach wie eine Ertrinkende und zog sie eng um sich.
»Wer bist du?«, fragte ich.
Ich bekam keine Antwort. Nicht sofort.
Doch als sie mir endlich ihren Namen sagte, konnte ich nichts damit anfangen.
Ich versank wieder in Apathie.
Zwischenspiel:
Ich treffe den Alten in einem Detmolder Café. Sein Name ist Alfons Tewessieker. In seinem früheren Leben war er Lehrer für schwer erziehbare Kinder. Davor war er Nazi. Er will auch davon erzählen, aber ich wiegle ab. Ich will nicht wissen, was er damals verbrochen hat. Er erzählt es mir trotzdem.
Nein, das Seniorenzentrum sei kein KZ. So dürfe man sich das nicht vorstellen. Viele seiner Mitpatienten litten an Demenz oder seien geistig behindert. Bei Adolf, ist er überzeugt, wären die alle nicht so alt geworden. Aber so sei das ja heutzutage, und er wolle daran auch nichts ändern. Das Rad der Zeit lasse sich nun mal nicht zurückdrehen.
Seit viereinhalb Jahren ist er im Seniorenzentrum St. Agnes untergebracht. Er ist aus freien Stücken hier eingezogen, nachdem er einen Schlaganfall bekommen und drei Tage hilflos in seiner Wohnung gelegen hatte. Er ist einer der ältesten Bewohner und gehört zu denen, die am längsten hier sind. Und damit kommt er zu einem seiner Lieblingsthemen: der durchschnittlichen Verweildauer in St. Agnes.
»Statistik war schon immer meine Passion«, erzählt er, »und daher wusste ich, welche Lebenserwartung ich haben würde, wenn ich mich einer sogenannten pflegeorientierten Einrichtung ausliefere. Von Anfang an hatte ich das Ziel, denen ein Schnippchen zu schlagen.«
Er zeigt sein böses Grinsen. »Sie müssen wissen, dass statistisch jeder fünfte Neuankömmling innerhalb eines Jahres stirbt. In St. Agnes sind es sogar vierundzwanzig Prozent. Das ist viel, denn bei St. Agnes handelt es sich nicht um eine reine Pflegeverwahranstalt, sondern um eine sogenannte Mischeinrichtung. Hört sich schlimm an, oder? Wie Mischbatterie oder sonst etwas Technisches. Aber so nennen die es offiziell: Mischeinrichtung. Das heißt, es gibt neben den Pflegeplätzen auch Wohnplätze. In den pflegeorientierten Einrichtungen gibt man durchschnittlich nach drei Jahren den Löffel ab, in den Mischeinrichtungen nach sechs Jahren. In St. Agnes geht der Durchlauf schneller vonstatten. Wie gesagt: Ich gehöre hier zu denen, die am längsten Widerstand leisten.«
Ich frage ihn, woran das seiner Meinung nach liegt, und er schimpft über das schlechte Essen und über das schlechte Personal.
»Aber für uns interessiert sich doch niemand. Ich selbst habe keine Verwandten mehr, und auch die Angehörigen der meisten anderen Patienten und Bewohner kriegen doch kaum mehr den Arsch hierher.«
Lotte Unverzagt habe ihm imponiert, weil sie noch länger durchgehalten habe als er. Sie war fünf Monate vor ihm eingezogen. Sie hätten sich verbündet und sich geschworen, sie würden aufeinander aufpassen.
So habe er einmal einem jungen Pfleger nicht nur mit seinem Gehstock, sondern auch mit der Polizei drohen müssen, weil dieser Lotte einen Ring gestohlen habe. Und es war Lotte, die ihn vor einem Jahr, als er einen Schwächeanfall erlitten und eine Woche lang bettlägerig gewesen war, davor bewahrt hatte, dass man ihn ans Bett fesselte. Sie hatte durchgesetzt, dass sie während dieser Zeit in seinem Zimmer bleiben und auf ihn aufpassen durfte.
In der einen Woche war er wieder an der Front gewesen. Als Hauptmann habe er seine Truppe gegen die Russen ins Feld geführt. Diesmal habe er gesiegt, aber als er sich umdrehte, waren seine eigenen Leute alle tot. Einer der Soldaten aber hätte sich aus dem Totenacker erhoben, wäre zu ihm gekommen und hätte ihm die Hand entgegengestreckt: »Gratuliere, Herr Hauptmann, endlich haben Sie es geschafft, uns alle umzubringen.«
Und als er die Hand des Toten ergriff, sei ihm, Tewessieker, ganz kalt ums Herz geworden, und er habe gewusst, dass auch er selbst gefallen war. In dem Moment habe er geschrien vor
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