Tod und Teufel. Bundesausgabe.: Ein Krimi aus dem Mittelalter.
Einfachkeit halber pflückte er zuerst die besten Stücke in unmittelbarer Griffweite. Dann sah er nur noch mindere, kleine Früchte um sich herum, ohne daß er annähernd genug beisammen hatte. Vorsichtig schob er sich den Ast entlang. Er hing nun mitten über der Gasse. Während er sich mit der Linken festklammerte, wanderte seine andere Hand geschäftig hin und her und bediente sich ausgiebig. Von dem, was hier wuchs, ließen sich Familien ernähren.
Die schönsten Äpfel lockten noch weiter vorne, aber er würde nur dran kommen, wenn er sich noch weiter vorwagte. Kurz erwog er, sich mit dem Erbeuteten zu begnügen. Aber wenn er schon mal in den Obstbäumen des
Erzbischofs saß, wollte er sich mit nichts weniger zufrieden geben als Konrad selber. Er kniff die Augen zusammen und kroch ein weiteres Stück vor. Der Ast wurde merklich dünner, ragte jetzt über das Gelände der Dombaustelle. Hier teilte sich das Blattwerk und gab den Blick auf den von Gerüsten eingepferchten Domchor frei. Niemand war mehr darauf zu sehen. Morgen beim ersten Hahnenschrei würde wieder reges Treiben, Schreien, Hämmern und Dröhnen die Hacht erzittern lassen, aber nun lag das Gelände in einem seltsamen, entrückten Frieden da.
Einen Moment lang war Jacop verblüfft, wie nahe das Halbrund der steil emporstrebenden Fenster und Säulen ihm erschien. Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich? War es lediglich die enorme Größe, die dem Wunderwerk eine Präsenz verlieh, als könne man es mit der bloßen Hand berühren? Aber es sollte ja noch viel größer werden! Mehr als doppelt so hoch, ohne die Türme! Kaum vorstellbar.
Und im Moment nicht wichtig. Jacop wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Äpfeln zu. An einem Dom, hatte Maria gemeint, kann man sich nicht sattsehen.
Eben.
Im Augenblick, da seine Finger sich zu einem wahren Prachtexemplar vortasteten, tauchte hoch oben auf den Gerüsten plötzlich eine Gestalt auf. Jacop zuckte zurück und drückte sich dichter an die schroffe Rinde. Besser, sich zurückzuziehen! Aber das wäre zu schade gewesen. Lieber einfach eine Weile ruhig verhalten. Die Blätter überschatteten ihn, so daß er zwar alles sehen, aber kaum gesehen werden konnte. Neugierig folgten seine Augen dem Mann auf seinem Weg über die Planken. Selbst auf die Entfernung sah man, daß er teuer gekleidet war. Sein Mantel wies üppigen Pelzbesatz auf. Er ging aufrecht wie jemand, der gewohnt war, zu befehlen. Von Zeit zu Zeit rüttelte er an den Stangen des Gerüsts, wie um sich zu vergewissern, daß sie zusammenhielten. Dann wiederum legte er die Hände auf die Brüstung und schaute einfach in die Tiefe.
Auch wenn Jacop nur ein Gaukler und Tagedieb war, der niemanden kannte außer seinesgleichen, wußte er, wer da drüben sein Werk inspizierte. Jeder kannte den Dombaumeister. Gerhard Morart ging der Ruf voraus, für seinen Plan den Teufel herbeibemüht zu haben. Steinmetz von Profession, war er seit seiner denkwürdigen Ernennung zu einem der angesehensten und einflußreichsten Bürger aufgestiegen, vom Domkapitel mit einem Grundstück bedacht, auf dem er sich ein prächtiges Haus aus Stein errichtet hatte, ganz in der Manier der edlen Geschlechter. Er verkehrte mit den Familien der Overstolzen, derer von Mainz und den Kones, sämtlich Patrizier. Sein Rat war gefragt, seine Arbeit bewundert und zugleich gefürchtet wie er selber. Zu seinen Lebzeiten schon war Gerhard eine Legende geworden, und es gab nicht wenige, die glaubten, er würde es mit Hilfe des Leibhaftigen noch vor seinem Tode schaffen, das unmögliche Werk zu vollen den, um dann von der höchsten Domspitze geradewegs zur Hölle zu fahren, den hochtrabenden, eitlen Konrad als Gesellen. Noch allerdings schien Jacop der Dom weniger das Resultat dunkler Verträge als vielmehr harter Arbeit zu sein.
Gerhard Morart hatte inzwischen die höchste Ebene des Gerüsts erstiegen. Seine massige Silhouette hob sich schwarz gegen das Licht ab, das vom Tag geblieben war. Der Wind zerrte ungestüm an seinem Mantel. Jacop fühlte die ersten Regentropfen herunterklatschen und erzitterte.
Sollte Gerhard doch die ganze Nacht da oben bleiben, wenn es ihm gefiel. Es wurde Zeit, sich die Taschen vollzumachen und schleunigst zu verschwinden.
Im selben Moment erschien eine zweite Gestalt auf dem Gerüst. Jacop war es, als komme sie geradewegs aus dem Nichts. Der Neuankömmling war weit größer als Gerhard. Er manifestierte sich so dicht bei dem Dombaumeister, daß ihre beiden
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