Tod und Töttchen - Westfalen-Krimi
ab und stapfte querfeldein über einen Acker. Schwer klebte die Erde an
meinen Schuhen. Ich kletterte über einen Zaun und irrte durch die
menschenleeren Straßen Gievenbecks. Stolperte über den Schulhof der
Waldorfschule und nahm, koste es, was es wolle, Kurs in Richtung Innenstadt.
Immer wieder waren Vorgärten, Mülleimer und Sandkästen im Weg, und immer wieder
verlor ich die Richtung. Es wurde schon fast hell, als ich endlich am Ufer
eines Gewässers stand. Drüben, auf der anderen Seite, ragten Hochhäuser im
nebligen Dunst auf.
Was war das: der East River? Egal, jedenfalls ging es hier nicht
weiter. Ich sah auf. Oben, auf der Brücke, die neben mir aufragte, stand
jemand. »He, dich kenne ich doch!«, rief er.
Ich erkannte nur die Stimme. Ottmar Noteboom. »Nein!«, rief ich
zurück. Aber ich trottete die Böschung hinauf, weil es keine andere Möglichkeit
gab, den See zu überqueren.
Ottmar trat mir in den Weg. »Willst du nicht wissen, was ich hier um
diese Zeit tue?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Also gut: was?«
»Schluss machen.«
»Gute Idee«, sagte ich. »Ich mach jetzt auch Schluss. Es ist spät
genug. Und ich bin alle.«
»Ich meine mit meinem Leben. Egal, was man macht, es ist falsch.«
»Dann mach es doch einfach nicht.«
Ottmar wollte mich nicht gehen lassen. »Heute Nachmittag habe ich im
›Café Augenhöhe‹ aus meinem neuen Buch vorgelesen.«
»Was, du jetzt auch?«, wunderte ich mich.
»Aber die Leute haben nicht zugehört, sondern mir stattdessen den
Rücken zugedreht. Und dann haben diese Kulturbanausen den Fernseher
eingeschaltet und ›Dschungelcamp‹ geguckt.« Noteboom klebte an mir wie eine
Klette und ich fürchtete seine Wortlawinen, selbst hier und jetzt, auf der
nächtlichen Torminbrücke. »Mein Herz schlägt links«, beteuerte er, »das ist dir
doch schon aufgefallen. Aber ich sag dir was: Die, für die es schlägt, wollen
nichts davon wissen: Hau ab, sagen die, du stinkst nach Geld!«
»Wie wär’s dann mit duschen«, schlug ich vor und machte mich los.
»Das wird schon wieder …«
»Du denkst, ich würde es nicht tun.«
»Tun? Was denn?«
»Springen. Hier und jetzt.«
»Wozu denn? Das ist kein Wasser da unten, das ist gesättigte
Blaualgenlösung. Davon kriegst du nur Durchfall.«
»Trotzdem, ich tu’s!«
»Gute Nacht«, sagte ich. »Morgen kannst du immer noch springen.«
Damit ließ ich Ottmar stehen. Noch bevor ich das andere Ende der Brücke
erreicht hatte, hörte ich etwas ins Wasser platschen. Etwas Schweres. Ich sah
mich um. Ottmar Noteboom war verschwunden.
»Na, dann«, brummte ich. »Fröhliche Weihnachten.«
30
So leicht wurde die Welt ihn jedoch nicht los. Schon kurz
nach Weihnachten kam er zurück und verblüffte die Welt, indem er mit seinem
Buch »Schlafen unter Brücken« den Aspekte-Literaturpreis absahnte. Das
Preisgeld investierte er in seine frisch gegründete Erlebnisagentur »Down
under«, mit der er, wie selbst scharfe Kritiker wie Hermine Tiedemann ihm
bescheinigten, ein neues Kapitel auf dem hart umkämpften Markt der
Freizeitindustrie aufschlug. Wer immer es sich leisten konnte und es satthatte,
zum dritten Mal in Folge auf die Malediven zu reisen, in den Anden zu trekken
oder mit Tausenden anderer Individualisten auf dem Jakobsweg zu pilgern, konnte
zwei Wochen Platte oder Hartz IV buchen,
wahlweise classic – mit Vollpension, authentic – ohne alles oder de luxe – mit Minijob. Schon bald gab es viele, die das Erfolgsmodell kopieren wollten,
und Ottmar führte einen Prozess nach dem anderen um die geistige Urheberschaft
an seiner Idee.
Was seine politischen Ambitionen anging, so war er nicht ganz so
erfolgreich: Susann Bolzenius, seine Schachfigur, setzte alles auf eine Karte,
um den Parteivorsitz im Handstreich zu erobern. Mit einer ebenso flammenden wie
denkwürdigen Rede auf dem nächsten Parteitag der MSP verkündete sie das Ende des dunklen Tals, das die Partei in den letzten Wochen
habe durchwandern müssen und empfahl sich mit all ihren schlagenden Argumenten
als brutalst mögliche Aufklärerin des Vergangenen und Zukünftigen. Vor allem die
Stimmen der männlichen Parteimitglieder machten sie zur neuen Nummer eins.
Leider war ihr Triumph nicht von langer Dauer: Enthüllungen aus dem Internet
machten ihr zu schaffen. Man hatte Auszüge aus ihrem Superbestseller »Mamas
Muschi« mit Texten aus Pornoheftchen verglichen und verblüffende
Übereinstimmungen festgestellt. Plagiatsvorwürfe wurden laut, für die
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