Tod vor der Morgenmesse
unversehrt unter uns weilen. Schwester Fidelma möchte uns jetzt die Hintergründe dieser Tragödien erläutern.«
Er lehnte sich zurück und gab Fidelma mit einem Blick zu verstehen, daß er nicht gewillt war, noch mehr zu sagen. Daraufhin erhob sie sich und schaute in die erwartungsvoll auf sie gerichteten Gesichter.
»Das hier ist keine Gerichtsverhandlung«, begann sie. »Nie mand steht vor Gericht, doch das, was ich euch zu sagen habe, wird unweigerlich zu einer Gerichtsverhandlung führen, denn wir haben es mit Mord zu tun, nicht nur mit dem Mord an Äbtissin Faife und an dem Ehrwürdigen Cináed, sondern an vielen unglückseligen gallischen Seeleuten, an Dorfbewohnern in den Sliabh-Mis-Bergen und an einem frommen Bruder namens Martan von der Seanach-Insel. Hinzu kommt der jüngst verübte Mord an dem Gefangenen Olcán.«
Ihre Selbstsicherheit, mit der sie die Verbrechen aufzählte, erboste Abt Erc. »Willst du in der Tat behaupten, daß all diese Vorkommnisse miteinander zu tun haben?«
Fidelma lächelte. »Wenn es nicht an dem wäre, würde ich eine andere Form der Darlegung wählen«, entgegnete sie ruhig und sachlich, und nur Eadulf bemerkte ihren gereizten Unterton.
Sie wendete sich wieder den vorläufig noch schweigenden Anwesenden zu. »Der Tatbestand erwies sich als äußerst verworren |427| und hatte viele Teilaspekte; jeder wollte sorgfältig betrachtet sein, ehe es als erwiesen gelten konnte, daß alle mit einem Ausgangspunkt in Zusammenhang gebracht werden können. Es ist eine lange Geschichte.«
»Dann fang endlich an, damit wir bald zum Ende der Geschichte kommen und uns in unsere Trost und Zuversicht spendenden Räumlichkeiten zurückziehen können.« Es war die schneidende Stimme des Ehrwürdigen Mac Faosma.
Fidelma ließ sich von der Ungehörigkeit des alten Mannes nicht aus der Ruhe bringen. »Ich dachte, wir sind im Hause des Herrn, Ehrwürdiger Mac Faosma. Wo sonst können wir mehr Trost und Zuversicht finden als an einem Ort, der ihm geweiht ist?« Sie weidete sich an dem verwirrten Gesichtsausdruck des Gelehrten. Nur Eadulf merkte, daß sie über dessen heuchlerische Frömmigkeit spöttelte. Noch ehe der Ehrwürdige Mac Faosma dagegenhalten konnte, fuhr sie fort: »Du solltest dir vor Augen führen, daß du nicht nur die Schwester des König von Muman vor dir hast, sondern auch eine Anwältin der Gesetze, die in ganz Éireann gelten, in allen fünf Königreichen des Landes, für alle Stammesgebiete. Beleidigt oder mißachtet man diese Anwältin, kommt es einer Mißachtung des Gesetzes gleich. Einen Gelehrten wie dich muß ich wohl nicht daran erinnern, mit welchen Strafen Mißachtungen des Gesetzes geahndet werden.«
Der Ehrwürdige Mac Faosma stotterte irgend etwas vor sich hin, doch Fidelma schenkte ihm keine weitere Beachtung.
»Ich will euch nicht länger festhalten als nötig. Aber ich muß euch die einzelnen Aspekte der unheilvollen Geschehnisse vor Augen führen. Laßt mich damit beginnen, daß ich zunächst auf die Hauptursache des Ganzen zu sprechen komme, auf den Beweggrund für Mord und Entführung. Es tut mir leid, daß wir bis auf den jahrhundertealten Streit zwischen |428| den Uí Fidgente und den Eoghanacht von Cashel zurückgehen müssen.«
Aus mehreren Ecken ertönte aufgebrachtes Gemurmel. Conrí schaute unglücklich in die Runde.
»Die Wahrheit läßt sich nicht im Lärm ersticken«, mahnte Fidelma mit erhobenem Zeigefinger.
»Worte ohne Beweisführung bringen uns der Wahrheit auch nicht näher«, stichelte der Ehrwürdige Mac Faosma.
»Hör nur gut zu, dann bekommst du die Beweise, die meinen Worten zugrunde liegen«, entgegnete Fidelma unbeirrt. »Oder ist Zuhören zuviel verlangt für eine Zusammenkunft wie diese?«
Aus der überwiegend zum Stamm der Uí Fidgente gehörenden Menge kamen immer noch Proteste, so daß sich Conrí gemüßigt sah, für Ruhe zu sorgen. Er stand auf und hob beschwichtigend die Hände.
»Wie sagt man doch bei uns? ›Geh nicht mit der Sichel aufs Feld, ohne daß man dich dazu aufgefordert hat.‹« Mit der altbekannten Weisheit wollte er die Versammelten ermahnen, sich dem Anlaß angemessen zu benehmen. »Laßt uns anhören, was Fidelma von Cashel zu sagen hat, und das ohne Beleidigungen, Spott oder Geschimpfe. Wahrheit kann ungebeten über uns kommen wie schlechtes Wetter. Aber schlechtes Wetter nicht wahrhaben zu wollen macht noch lange keinen schönen Tag. Wenn ich als Kriegsherr der Uí Fidgente zuzuhören vermag, dann
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