Tod vor der Morgenmesse
Einzelpersonen sollten nicht daran teilhaben; er gedachte, so jedweder Eitelkeit vorzubeugen. Wer hatte dann aber die Namen der sechs Schwestern preisgegeben, die Äbtissin Faife auf die jährliche Wallfahrt zum Heiligtum auf dem Bréanainn begleiteten? Ich fand heraus, daß die Gruppe der Pilgerinnen jedes Jahr anders zusammengesetzt war. Also mußte jemand dem sogenannten ›Meister‹ und damit auch Olcán gesteckt haben, wer sie diesmal waren und an welchem Tag genau sie welchen Weg nehmen würden.«
Wieder machte sie eine Pause und studierte die ihr erwartungsvoll zugewandten Gesichter.
|437| »Nur jemand aus dem Kloster konnte davon gewußt haben.«
Die Schlußfolgerung kam von Bruder Cú Mara, dem Verwalter. »Heißt das, daß einer von uns hier dem Mord an der eigenen Äbtissin und der Entführung von sechs unserer Mitschwestern Vorschub geleistet hat?« fragte er.
»Wer war es?« forschte Abt Erc. Seine Streitlust war inzwischen erlahmt.
»Wer sonst als Eoganáns drittes Kind, der sogenannte ›Mei ster ‹; von Slébéne als Pflegekind aufgezogen, trat es hier ins Kloster ein. Als Uaman umkam, hielten sie die Zeit für gekommen, Anspruch auf die Führung der Uí Fidgente zu erheben, doch das bedurfte einer Armee, und für eine Armee brauchte man Geld.«
Slébéne war blaß geworden; seine Augen funkelten vor Zorn.
Conrí war aufgesprungen und ging langsam auf ihn zu.
»Nenne den Mann beim Namen, Fidelma«, verlangte er und hatte die Hand griffbereit am Heft seines Schwertes.
»Habe ich gesagt, dieser ›Meister‹ sei ein Mann?« Ihre Augen glitten über die Gesichter der Anwesenden. »Steh auf, Uallach, Tochter des Eoganán!« wies sie die Betroffene an.
»Uallach!« Fassungslos starrte Conrí Schwester Uallann an, die Ärztin der Abtei. Er glaubte, den Namen zu kennen. Sie war eine glühende Anhängerin des toten Anführers der Uí Fidgente, war gegen ein friedliches Zusammengehen mit Cashel und hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, unter den Corco Duibhne aufgewachsen zu sein. Natürlich, das machte Sinn. Reglos saß die Ärztin da, hatte die Augen unverwandt auf Fidelma geheftet.
»Nicht Uallann«, sagte Fidelma ruhig. »Jemand, der seinen wahren Namen verbergen will, wird nicht einen anderen so ähnlich klingenden wählen.«
|438| Erst jetzt begriff Conrí, daß Fidelma ganz eindeutig Schwester Buan anschaute.
»Steh auf, Uallach. Gib dir keine Mühe, es leugnen zu wollen«, sagte sie in gefaßtem Ton.
Langsam erhob sich Schwester Buan. Man merkte ihr an, daß widersprüchliche Gefühle in ihr kämpften. »Du hältst dich für sehr klug, Fidelma von Cashel. Ich für mein Teil bedauere, daß meine beiden Versuche, dich zu töten, mißlangen. Es war mein Fehler. Ich habe versagt.«
Entsetzt hielten die Zuhörer den Atem an.
»Ich für mein Teil bin dir dankbar, daß du keinen Erfolg hattest«, entgegnete Fidelma ungerührt.
Abt Erc folgte dem Wortwechsel der beiden höchst verwirrt. »Ich glaube, wir verdienen eine Erklärung, Schwester Fidelma. Ich verstehe nicht, wie du eine derartige Anschuldigung erheben kannst. Wir kennen Schwester Buan seit vielen Jahren. Wir haben sie mit der Aufgabe betraut, Handel für unser Kloster zu betreiben. Sie war … Sie war die Partnerin des Ehrwürdigen Cináed, und der hätte wahrlich nicht die Bestrebungen eines Kindes von Eoganán unterstützt.«
»Ich werde beweisen, daß die Person, die du als Schwester Buan kennst, in Wahrheit Uallach, Tochter des verstorbenen Herrschers der Uí Fidgente und Schwester von Uaman dem Aussätzigen ist. Buan war es, die die Entführung der sechs Steinschleiferinnen betrieben hat. In diesem Kloster war Buan eine der wenigen, die in ihrer Eigenschaft als Händlerin die Freiheit hatte, sich im Land zu bewegen. Olcán und seine Männer arbeiteten für sie. Weil sie von der Statur und den Bewegungen her Uaman, ihrem Bruder, ähnelte, verbarg sie ihre weibliche Gestalt unter einem langen, losen Gewand, und die Menschen dachten, Uaman wäre noch am Leben. Sie hat den Tod von Äbtissin Faife auf dem Gewissen und ist verantwortlich |439| für all das, was danach auf der Seanach-Insel geschah. Als ihr Mann, der Ehrwürdige Cináed, Verdacht zu schöpfen begann, ermordete sie selbst ihn, und auch Olcán brachte sie um, als sie befürchtete, er würde sie verraten.
Olcán war der einzige, der wußte, daß nicht Uaman der ›Meister‹ war. Er hat es mir selbst gesagt, just an dem Abend, bevor Buan, der er vertraute, ihn
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