Todes Kuss
unerfahrene junge Dame, die mein bester Freund geheiratet hat, mit dem Bild, das ich selbst von Ihnen habe, in Einklang zu bringen. Im Moment bin ich völlig verwirrt.“ Einen Moment lang legte er mir die Hand auf die Wange. Dann wandte er sich ab und verließ mich ohne ein Wort des Abschieds.
Ein paar Minuten blieb ich reglos stehen. Mein Herz raste. Endlich fand ich die Kraft, den Arm zu heben und meine eigene Hand auf die Stelle zu legen, die Colin berührt hatte.
Noch etwas später ließ ich mich in einen Sessel sinken und überlegte, was mich dazu gebracht hatte, mit Hargreaves über meine Ehe zu sprechen. Es wäre so viel klüger gewesen, einen Brief an Cécile zu schreiben und ihr davon zu erzählen. Gewiss hätte sie mir geantwortet, dass es eine unverzeihliche Dummheit sei, sich in einen Toten zu verlieben – was zweifellos der Wahrheit entsprach.
Meine Gedanken wanderten zu Ivy, die, wie ich vermutete, aus Liebe geheiratet hatte. Sie wusste viel über meine Beziehung zu Philip. Doch durfte ich sie nun, da sie eine glückliche Ehefrau war, weiter mit meinen Problemen belasten? Ich fand keine Antwort auf diese Frage.
Um mich von meinem Kummer abzulenken, beschloss ich, ins British Museum zu gehen und die Vase mit der Darstellung des Urteils des Paris noch einmal zu bewundern. Vorher allerdings schaute ich mir noch die Ausstellungsstücke in einem Raum an, den ich bisher selten betreten hatte. Und ausgerechnet da entdeckte ich die Apollo-Büste des Praxiteles. Philip hatte sie also tatsächlich gefunden, gekauft und dem Museum überlassen. Darüber war ich sehr froh – bis ich einen Blick auf die Karte warf, die den Namen des Spenders nannte. Er lautete Thomas Barrett. Das konnte nur bedeuten, dass es sich nicht um die Büste handelte, von der Monsieur Fournier gesprochen hatte.
Wenig später stand ich vor der Vase, auf der Paris und die drei Göttinnen abgebildet waren. Ich freute mich an ihrer Schönheit und wünschte von ganzem Herzen, ich könnte diese Freude mit Philip teilen. Das Gefühl, ihm nach seinem Tod nahe zu sein, indem ich seine Interessen teilte, weckte einen bittersüßen Schmerz in mir.
Mr Murray riss mich aus meinen Gedanken. „Lady Ashton“, rief er, „wie schön, dass Sie wieder hier sind. Wie hat Ihnen die Stadt der Liebe und des Lichts gefallen?“
„Paris war wunderbar. Aber es ist auch gut, zu Hause zu sein.“
„Dennoch sehen Sie ein wenig melancholisch aus.“
„Ich habe den armen Paris bedauert. Dass er Helena für sich eroberte, hat ihm letztendlich kein Glück gebracht.“
Murray zitierte ein paar Verse aus der Ilias , die sich mit den Prüfungen der Liebe und der Vergänglichkeit des Glücks befassten.
Mit einem Lächeln vervollständigte ich das Gesagte.
„Sie haben Popes Übersetzung gelesen und sogar einen Teil auswendig gelernt! Ich bin sehr beeindruckt, Lady Ashton.“
„Ich habe auch begonnen, mich mit Matthew Arnolds Aufsätzen über Homer zu beschäftigen. Sicher hat er recht damit, dass eine Übersetzung nie dem Original gleichkommt. Aber ich denke doch, dass man nicht Altgriechisch lesen können muss, um ein Gespür für die Großartigkeit der Dichtung zu entwickeln.“
„Nun, wir werden nie wissen, was die alten Griechen empfunden haben, wenn sie Homers Verse hörten.“
Ich nickte und sagte dann: „Im Gedenken an meinen Gemahl würde ich dem Museum gern eine Spende machen. Was sollte ich dabei beachten?“
„Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Sie in allem, was Sie nicht Ihrem Anwalt überlassen wollen, beraten dürfte, Lady Ashton.“
„Ich danke Ihnen, Mr Murray.“
Als ich das Museum verließ, fühlte ich mich bedeutend besser als bei meiner Ankunft. Meine Stimmung hellte sich weiter auf, als ich daheim feststellte, dass Davis den Sherry aus der Bibliothek entfernt und durch eine Karaffe mit Port ersetzt hatte. Ich dankte ihm.
Mit einem kleinen Lächeln erwiderte er: „Ich hoffe, Sie werden mich nie auffordern, Ihnen die Zigarren Seiner Lordschaft zu bringen. Dann müsste ich nämlich kündigen.“
31. Mai 1887, Berkeley Square, London
Habe die zukünftige Lady Ashton gefunden.
Sie ist hinreißend, und alle umschwärmen sie – was sie nicht sehr zu beeindrucken scheint. Als ich einen Walzer mit ihr tanzte, war mir plötzlich klar, dass ich nie eine andere als sie lieben werde. Aphrodite ist nichts gegen sie. Paris hätte den goldenen Apfel Lady Emily Bromley überreichen sollen, die von nun an meine Helena und meine Kallista sein
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