Todes Kuss
Dunleigh Lord Palmer, uns noch den Stein von Rosetta zu zeigen, der für sie den wertvollsten Besitz des Museums darstelle.
Ich senkte den Blick und dachte voller Bedauern, wie unhöflich es wirken würde, wenn ich mich gerade jetzt von der Gruppe verabschiedete.
Während der nächsten Wochen verbrachte ich viel Zeit mit Andrew. Er begleitete mich ins Theater, lud mich zum Dinner ein und holte mich häufig zu Spaziergängen in den Hyde Park ab. Wenn wir uns auf einer Soiree trafen, wachte er unauffällig, aber – das war zumindest mein Eindruck – eifersüchtig über mich.
Ich mochte ihn und schätzte seine mal spöttischen, mal sarkastischen Kommentare. Denn die amüsierten mich viel mehr als die wohlerzogenen und entsetzlich langweiligen Unterhaltungen, die andere mit mir führten. Auch wurde ich nicht müde, darüber zu staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit er manche gesellschaftlichen Regeln missachtete. Andere hingegen hielt er aufs Genaueste ein, vielleicht weil er glaubte, dadurch meinen Ruf schützen zu können. Ich fand das sehr nett von ihm, was ich auch meiner Mutter gegenüber erwähnte.
Sie vergaß von diesem Tag an nie, mir deshalb ins Gewissen zu reden. Gegen Andrew sei ja nichts einzuwenden, aber natürlich könne ich eine viel bessere Partie machen. Lord Palmer besäße zwar ein Landgut, das sein Sohn einmal erben würde, doch viele Gentlemen im heiratsfähigen Alter seien bedeutend wohlhabender.
Mir war klar, dass Andrew ihre Sympathie verloren hatte, als meine Mutter sich seiner unkonventionellen Art bewusst wurde.
Glücklicherweise brauchte ich als Witwe nicht mehr in allem auf meine Mutter zu hören. Ich genoss die Stunden, die ich mit Andrew verbrachte. Doch wenn ich nach Hause kam, bemerkte ich, wie sehr Philip mir noch immer fehlte. Je mehr ich mich mit Andrew amüsierte, desto mehr bedauerte ich auch, dass ich mit meinem Mann nie geflirtet und nur selten gelacht hatte. Philip hatte mit mir nicht über seine Liebe zu den alten Griechen gesprochen, und ich hatte ihm nie anvertraut, was mich bewegte. Abends hatte ich manchmal in unserem Bett gelegen und sehnsüchtig auf ihn gewartet. Ich mochte seine Zärtlichkeiten, obwohl sie keine leidenschaftlichen Gefühle in mir weckten.
Gelegentlich fragte ich mich, wie unsere Beziehung sich entwickelt hätte, wenn Philip nicht so früh gestorben wäre. Doch eigentlich gefiel mir das Witwendasein recht gut. Nie malte ich mir aus, wie es mir als Andrews Ehefrau ergehen würde.
Ivy hingegen schmiedete eifrig Pläne für meine Zukunft. Im Gegensatz zu Margaret, die nicht viel von Andrew hielt, hoffte meine beste Freundin inständig, dass ich ihn heiraten würde. Ich wiederum war froh, dass er mir bisher keinen Antrag gemacht hatte.
Eines Tages, als wir in der Bibliothek saßen, fragte er mich, warum ich meine Besucher so selten im Salon empfing.
„Hier fühle ich mich Philip nahe“, gestand ich. „Colin hat mir erzählt, dass die Bibliothek das Lieblingszimmer von ihm war.“
„O bitte, lassen Sie uns nicht von Hargreaves sprechen!“
„Was haben Sie eigentlich gegen ihn?“
Er zuckte die Schultern. „Nichts. Es ist nur, dass ich nie das Gefühl hatte, ihm wirklich trauen zu können.“
Das wunderte mich, denn aus Philips Tagebüchern wusste ich, dass mein Mann niemandem mehr Vertrauen geschenkt hatte als seinem Freund Colin.
Als habe er meine Gedanken gelesen, sagte Andrew: „Ich habe Philips Meinung stets geschätzt. Doch in Bezug auf Hargreaves muss er sich geirrt haben. Allein die Tatsache, dass man nie weiß, wo dieser Kerl sich gerade aufhält! Ständig reist er hierhin und dorthin. Entweder er macht finstere Geschäfte oder er hat auf dem Kontinent eine äußerst anspruchsvolle Mätresse.“
„Sie sind wirklich ein Scheusal, Andrew!“, rief ich. „Ich mag Colin.“
„Und das, meine Liebe, macht ihn mir besonders unsympathisch.“ Andrew rückte näher an mich heran. „Warum geben Sie mir nie einen Hinweis darauf, was Sie für mich empfinden?“
„Weil ich verwitwet bin und noch um meinen Gemahl trauere.“
Er seufzte. „Ihre Tugendhaftigkeit wird mich noch ins Grab bringen.“
„Soll ich nach einem Arzt schicken?“, neckte ich ihn. „Oder soll ich Sie sterben lassen, damit Arthur an Ihrer Stelle erbt? Für ihn und Arabella wäre das …“
„Welch schrecklicher Gedanke“, unterbrach Andrew mich, nahm meine Hand, beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: „Liebste Emily, ich bitte um
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