Todes Kuss
dafür, dass der Verlust des Gemahls für eine junge Dame schwer zu verkraften ist. Doch dein Benehmen geht weit über alles Erträgliche hinaus. Trauer darf nicht als Entschuldigung für schlechte Manieren angeführt werden!“
„Mama …“
Sie fiel mir ins Wort. „Es geht um Mr Palmer“, sagte sie würdevoll. „Mir ist klar, dass man heute weniger Wert auf Sitte und Anstand legt als noch in meiner Jugend. Aber es gibt Grenzen! Man könnte meinen, ihr hättet das Hochzeitsdatum schon festgesetzt! Sicher, die Palmers sind eine angesehene Familie, wenn auch ohne nennenswertes Vermögen. Aber du könntest einen Duke erobern!“
„Ich bin nicht in der Stimmung, mit dir über mögliche Ehekandidaten zu diskutieren. Ich beabsichtige nicht, noch einmal zu heiraten.“
„Deine Stimmungen interessieren mich nicht! Auf jeden Fall werde ich nicht tatenlos zusehen, wie du dich mit Mr Palmer zum Narren machst. Ich …“
„Mama!“, versuchte ich, sie zu unterbrechen. Vergeblich.
„Ich könnte noch darüber hinwegsehen, wie du dich benimmst, wenn ihr verlobt wäret. Doch wie ich erfahren habe, hast du seinen Antrag abgelehnt.“
„Das stimmt.“ Wie hatte ich nur glauben können, meine Mutter würde nichts davon erfahren? In Ihren Augen war es ein Verbrechen, wenn eine Dame sich gegen eine vorteilhafte Bindung entschied.
„Ich hoffe sehr, dass du Palmer nur abgewiesen hast, weil du mit einem besseren Angebot rechnest.“
„Ich möchte nicht noch einmal heiraten. Ist das wirklich so schlimm?“
„Allerdings! Du bist schön, reich und von Adel. Dein Stammbaum lässt sich viele Generationen zurückverfolgen. Du hättest sogar in die königliche Familie einheiraten können.“
Wie ich aus Erfahrung wusste, war es zwecklos, meine Mutter von ihren Überzeugungen abbringen zu wollen. Trotzdem machte ich einen letzten Versuch: „Findet du es falsch, dass ich mir ein Beispiel an unserer Königin nehme und den Witwenstand beibehalten möchte?“
Ein böser Blick war die Antwort. „Königin Victoria trauert wirklich um den armen Prinzen Albert. Du hingegen benimmst dich ganz und gar nicht wie eine trauernde Witwe.“
Es gab verschiedene Gerüchte, die den Schluss nahelegten, dass die Königin ihre langjährige Trauer längst überwunden hatte. Doch darüber wollte ich mit meiner Mutter erst recht nicht streiten. Also rief ich: „Philip fehlt mir entsetzlich. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich leide. Deshalb hast du auch kein Recht, mir Vorwürfe zu machen. Niemand hat das Recht, über mich zu urteilen! Meine Weigerung, Mr Palmer zu erhören, geht einzig und allein ihn und mich etwas an.“
Meine Mutter musterte mich voller Herablassung. „Irgendwann wirst du deinen Fehler einsehen, Emily. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät. Dein gutes Aussehen wirst du nicht ewig behalten. Schon jetzt besteht die Gefahr, dass sich nur noch Mitgiftjäger und Lebemänner für dich interessieren. Denn welcher Gentleman möchte wohl eine Gemahlin, die alle möglichen gesellschaftlichen Regeln missachtet? Welcher Mann würde sich damit abfinden wollen, dass seine Frau Vorlesungen am University College besucht? Sei doch vernünftig, Kind! Bestimmt hat diese Amerikanerin dir so absurde Ideen in den Kopf gesetzt. Sie ist kein angemessener Umgang für dich.“
„Margaret Seward kommt aus einer sehr achtbaren Familie.“
„Für amerikanische Verhältnisse vielleicht! Wir hier in England legen zum Glück strengere Maßstäbe an. Diese Miss Seward übt einen schlechten Einfluss auf dich aus.“
Dass sie so über meine Freundin sprach, erzürnte mich ungemein. „Margaret ist eine kluge und anständige junge Dame“, erklärte ich. „Sie hat deinen Tadel ebenso wenig verdient wie ich. Sicher begehe ich hin und wieder Fehler. Aber im Großen und Ganzen gibt es an meinem Verhalten nichts auszusetzen. Es ist gesellschaftlich inzwischen durchaus akzeptiert, dass auch wir Damen Interesse an wissenschaftlichen Themen aufbringen. Bedauerlich, wenn dir das Verständnis dafür fehlt. Noch bedauerlicher allerdings finde ich, dass du nie ein gutes Wort für mich hast.“
Mit einem tiefen Seufzer erhob sich meine Mutter. „Ich denke, du sollest London verlassen, ehe du deinen Ruf völlig ruinierst. Komm für ein paar Wochen mit deinem Vater und mir aufs Land!“
Darauf entgegnete ich nichts. Ich verabschiedete mich von ihr und begab mich in die Bibliothek, wo ich in Ruhe über alles nachdenken konnte, was ich von Mr Attewater erfahren
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