Todesblueten
Luft, wuchtete die Klappe hoch, stürzte los und schlug meine rechte Hand auf die Türklinke. In diesem Moment spürte ich den eisernen Griff um meinen Knöchel und sah nach unten. Leon hockte auf dem Boden, genau vor dem verdammten Küchentresen. Er musste sich lautlos dahin geschlichen haben oder er hatte die ganze Zeit dort gewartet.
Er riss die Augen in gespieltem Entsetzen auf.
»Buh!«
Ich klammerte mich trotzdem weiter an die Klinke, auch wenn abzusehen war, dass ich gleich hinfallen würde. Die Tür war der Weg in die Freiheit, doch ich rutschte weg, weil Leon an meinem Bein zerrte wie an dem einer Gummipuppe. Mein Knie schleifte am Holzboden entlang, aber ich ließ die Türklinke nicht los, und dann glitt sie mir doch aus der Hand, aber nicht weil Leon so stark war, sondern weil jemand sie von draußen aufriss. Fassungslos sah ich auf die große, dunkle Gestalt, die im Türrahmen erschienen war wie eine Vision. Immer noch im Polohemd, mit noch viel wütenderem Gesichtsausdruck als beim letzten Mal – sofern das möglich war –, stand der Mann vor uns, der mir erst vor Kurzem im Wald mein Handy abgeknöpft hatte.
»Ganz ruhig, Freundchen«, sagte er. »Aufstehen, Hände weg, aber los. Die Polizei ist gleich hier.«
Ich hörte eine Art Fauchen hinter mir, das offenbar von Leon kam, dann spürte ich einen kleinen Windzug, als er aufsprang und sich auf den Mann stürzte, das Gesicht zornig, sein schmieriges Grinsen ausgelöscht.
Eigentlich war das die Gelegenheit wegzurennen, Melanie draußen zu schnappen und dann ins Wasser zu springen und zu unserem Hausboot zu schwimmen. Aber es ging nicht. Ich stand da wie gelähmt und guckte zu, wie sich die beiden Männer vor mir schlugen. Richtig schlugen, nicht nur so ein tänzelndes Gefuchtel veranstalteten, wie die Typen aus dem Klub in unserer Siedlung, wenn sie sich im Suff in die Haare kamen. Leon übte irgendwelche Boxhiebe aus, während der Mann so eine Art Karate vollführte. Er war erstaunlich schnell, zischte dauernd so etwas wie »Na komm schon« und schien das Ganze fast zu genießen. Auf einmal kam er mir gar nicht mehr so alt vor. Dann fingen sie an zu ringen wie zwei Bären. Und als ich irgendwann aus meiner Schockstarre erwachte, die Tür aufstieß und zu Melanie raussah, die jetzt aufrecht auf dem Steg saß und die immer noch gefesselten Hände erschrocken vor den Mund hielt, da trat der Mann noch mal kräftig zu und Leon kippte vornüber.
Wenn mir jemand vor drei Stunden prophezeithätte, dass der alte Typ aus dem weißen Hausboot, der mir mein kostbares Handy abgeknöpft hatte, nur wenig später mein Held sein würde – ich hätte denjenigen für verrückt erklärt.
»Polizei ist unterwegs«, keuchte der Mann. »Hab sie angerufen.«
»Mit meinem Handy?«, fragte ich perplex. Als hätte ich gerade keine anderen Sorgen. Mit halbem Ohr nahm ich ein merkwürdiges Geknatter irgendwo wahr. Melanie rappelte sich gerade auf dem Steg hoch, Gott sei Dank.
»Quatsch«, sagte der Mann. »Mit meinem.«
»Wieso . . .«, ich suchte nach den richtigen Worten, »wieso haben
Sie
die Polizei angerufen?«
Leon stöhnte auf dem Boden und machte eine Bewegung, was den Mann dazu veranlasste, seinen Fuß auf Leons Rücken zu stellen. Ganz normal kam er mir auch nicht gerade vor.
»Wieso?«, fragte er. »Weil der Junge es mir gesagt hat. Geht um Leben und Tod, meinte er.«
»Der Junge?« Ich verstand immer noch Bahnhof.
»Der da! Dein Macker.« Er zeigte auf das Fenster, auf den See hinaus. Das Geknatter war jetzt lauter geworden und ich sah, wie ein Boot angefahren kam. Ein Kahn mit Motor? Konnte das sein? Darin saß Bastian mit grimmigem Gesicht, hinter ihm ein schlaksiger junger und ein korpulenter älterer Mann.
»Mein Macker«, wiederholte ich mechanisch. Wasfür ein dämliches Wort. Und waren Motorboote nicht verboten?
»Wer sind die ganzen Leute?«, fragte Melanie. Sie stand jetzt neben mir in der Tür, hielt sich an mir fest und stellte schon wieder Fragen, auch wenn sie noch leichenblass aussah.
»Erkläre ich dir dann alles«, sagte ich. Ich zerschnitt endlich den verdammten Draht und dann drückte ich sie ganz fest. »Und du musst mir erzählen, warum du in aller Herrgottsfrühe bei diesem Irren gelandet bist!«
Melanie nickte, doch ich konnte sehen, wie es in ihren Augen anfing, verdächtig feucht zu glitzern. »Aber das hat Zeit«, sagte ich schnell. Melanie wischte sich etwas aus den Augen und setzte sich wieder auf den Steg.
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