Todesbote
Familie, ihre Freunde und ihre Kollegen Nachrichten schickte. Und an Kim.
SchlieÃlich rief sie noch einmal auf Kims Handy an, als Levon den Wagen parkte. Sie hielt das Telefon hoch, damit Levon die Ansage hören konnte: »Die Mailbox von... Kim McDaniels... ist voll. Es können keine Nachrichten mehr hinterlassen werden.«
14
Vom Gerald R. Ford Airport in Michigan flogen die McDaniels nach Chicago und von dort mit einer Maschine, auf deren Warteliste sie standen, nach Los Angeles, wo sie noch rechtzeitig Anschluss nach Honolulu hatten. Dort rannten sie mit Tickets und Ausweisen durch die Flughafenhalle und schafften es gerade noch als Letzte, in das Turbopropflugzeug der Island Air zu steigen. Kaum hatten sie ihre Plätze gleich hinter der Trennwand eingenommen, wurden die Türen mit einem erschreckenden Knall zugeschlagen.
Sie waren nur noch vierzig Minuten von Maui entfernt.
Nur noch vierzig Minuten von Kim.
Seit sie in Michigan ins Flugzeug gestiegen waren, hatten sie immer nur kurze Nickerchen gehalten, und jetzt, nachdem bereits so viel Zeit seit dem Anruf verstrichen war, fühlte sich alles ziemlich unwirklich an.
Sie rissen Witze darüber, dass Kim ihnen sagen würde, sie sollten sich zum Teufel scheren, weil sie einfach dort aufgekreuzt waren, und verzogen ihre Gesichter wie Kim, die ihren »Oh, bitte«-Blick zwischen ihren mit Blumenkränzen geschmückten Eltern hin und her wandern lieÃ.
Im nächsten Moment holte sie die Angst wieder ein.
Wo steckte Kim? Warum konnten sie sie nicht erreichen? Warum rief sie weder zu Hause noch auf Levons Handy zurück?
»Mir ist gerade die Sache mit dem Fahrrad eingefallen«, sagte Barbara, als das Flugzeug die Wolkendecke durchbrach.
Levon nickte und ergriff ihre Hand.
»Die Sache mit dem Fahrrad« hatte vor acht oder neun Jahren ebenfalls mit einem schrecklichen Anruf begonnen, damals aber von der Polizei. Kim war etwa vierzehn Jahre alt gewesen. Sie war nach der Schule mit dem Fahrrad nach Hause gefahren, um den Hals einen langen Schal, der sich im Hinterrad verheddert und Kim die Luft abgeschnürt hatte. Kim war vom Fahrrad in den StraÃengraben gestürzt.
Eine Frau, die die StraÃe entlangfuhr, entdeckte das Fahrrad und fand die bewusstlose Kim, die gegen einen Baum geschleudert worden war. Die Frau, Anne Clohessy, hatte den Rettungsdienst gerufen, und trotz der Hilfe der Sanitäter war Kim nicht zu Bewusstsein gekommen.
Ihr Hirn habe unter Sauerstoffmangel gelitten, hatte der Arzt gesagt. Sie liege im Koma. Die Schäden könnten irreversibel sein.
Kim war mit dem Hubschrauber in die Notaufnahme eines Chicagoer Krankenhauses gebracht worden. Levon und Barbara waren vier Stunden später eingetroffen, um ihre Tochter auf der Intensivstation zu besuchen. Sie war benommen, aber wach gewesen, ihr gesamter Hals so blau wie der Schal, der sie beinahe umgebracht hatte.
Doch sie hatte gelebt. Sie war noch nicht hundertprozentig auf dem Damm gewesen, aber Schäden würden keine zurückbleiben.
»Das war komisch in meinem Kopf«, hatte Kim gesagt. »Wie ein Traum, nur viel echter. Ich habe gehört, wie Pater Marty mit mir geredet hat, als würde er am FuÃende von meinem Bett sitzen.«
»Was hat er denn gesagt?«, hatte Barbara wissen wollen.
»⺠Ich bin froh, dass du getauft bist, Kimâ¹, hat er gesagt.«
Jetzt nahm Levon seine Brille ab und trocknete seine Augen mit dem Handrücken. Barbara reichte ihm ein Taschentuch. »Ich weiÃ, Schatz, ich weië, tröstete sie ihn.
Genauso wollten sie Kim jetzt vorfinden: gesund. Einhundertprozentig. Levon warf Barbara ein schiefes Lächeln zu. Beide dachten an die Ãberschrift im Chicago Tribunal â »Das Wundermädchen«. Manchmal nannten Levon und Barbara ihre Tochter noch immer so.
Das Wundermädchen, das an der Uni in der Basketballmannschaft mitspielte. Das Wundermädchen, das einen Vorbereitungskurs zum Medizinstudium an der Columbia University bekommen hatte. Das Wundermädchen, das bei einer Chance von eins zu einer Million für die Sporting-Life-Bikini-Aufnahmen ausgewählt worden war.
Was für eine Art von Wunder sollte das wohl gewesen sein?, fragte sich Levon.
15
Barbara drehte ein Taschentuch zu einem Knoten. »Ich hätte nicht so einen Wirbel wegen der Modelagentur machen sollen«, sagte sie. »Sie wollte es, Barbara. Niemand hat Schuld. Sie setzt doch immer
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