Todesbraut
dringend!
Sie fluchte, rappelte sich auf und erstarrte. Eine Bewegung, kaum wahrnehmbar, ein Farbklecks dort unten im Wasser, der sich von allem ringsherum abhob, zu rot und zu gelb war für diese Gegend. Wencke erkannte den Stoff, die Rosen auf Satin, sie erinnerte sich, was sie gedacht hatte, als sie dieses Tuch vor wenigen Stunden auf dem Kopf der Anwältin gesehen hatte. Es hatte so fröhlich gewirkt. Dass es nun auf der Oberfläche der Blauen Lagune schwamm, erstickte jeden Anflug von Optimismus im Keim.
Wencke schulterte ihren lädierten Rucksack und rannte los – oder besser, sie versuchte, so schnell wie möglich näher an das Wasser zu kommen, von Rennen konnte keine Rede sein. Siestolperte, rutschte aus, fing sich auf, um gleich wieder zu straucheln. Das letzte Stück bis zum See fiel immer steiler ab, doch sie konnte sich keine Vorsicht erlauben, insbesondere nicht, weil sie inzwischen auch etwas weiter in der Mitte des Gewässers eine Gestalt zu erkennen glaubte. Ein Körper, umschwommen von weißem Leinen und schwarzem Haar, ob er sich bewegte, war kaum zu erkennen. Aber dass es sich um Kutgün Yıldırım handelte, daran bestand kein Zweifel.
Wencke hatte einmal gehört, dass nur wenige muslimische Frauen der älteren Generation schwimmen gelernt haben, da sich der Unterricht nicht mit den Kleidungsvorschriften vereinbaren ließ. Es war nicht anzunehmen, dass die Anwältin sich freiwillig in das Gewässer begeben hatte, entweder war sie gefallen – oder jemand hatte sie gestoßen. War sie verletzt? War sie überhaupt noch am Leben? Wenn es noch eine Chance gab, musste Wencke sich beeilen. Das Steinplateau, auf dem sie inzwischen einigermaßen sicher gelandet war, ragte ein Stück über das Wasser. Das glasklare Blau ließ erkennen, dass der See an dieser Stelle tief genug war. Von hier aus konnte sie einen Sprung wagen. Sie setzte den Rucksack ab.
Was war die Alternative? Wenn Wencke vom Ufer aus losschwimmen wollte, dann müsste sie noch gut fünfhundert Meter weiter laufen, ein Weg voller Geröll, Hindernissen, Unebenheiten. Oder sie nahm allen Mut zusammen …
Wencke war niemals feige gewesen. Eher neigte sie zu übertriebener Risikobereitschaft. In Situationen wie dieser ganz besonders. Und es war ja auch niemand da, der sie an ihrer Unvernunft hätte hindern können. Sie musste dieser Frau helfen. Also: Hirn ausschalten, Augen schließen, den Bauch navigieren lassen.
Und Sprung!
Bevor sie überhaupt nachdenken konnte, war sie bereits tief in diesem anderen Element; umfangen vom Türkisblau,tauchte sie tiefer und tiefer ins Unbekannte, bis die Luft in ihren Lungen sie wieder an die Oberfläche brachte und ihr die Orientierung zurückgab. Das Wasser war zwar nicht so kalt wie befürchtet, dafür hatte Wencke aber das Gewicht der vollgesogenen Kleidung unterschätzt. Nachdem sie Atem geholt hatte, streifte sie rasch die Jeansjacke ab und ließ sie auf den Grund des Sees sinken, um schneller zu sein, denn die Gestalt, die sie erreichen musste, war noch viel zu weit entfernt, und auf ihrem Weg dorthin konnte sie keinerlei Ballast gebrauchen.
Sie fixierte ihr Ziel, dann legte sie das Gesicht ins Wasser und schwamm los, links und rechts schob Wencke die Arme am Körper entlang, um sie dann immer abwechselnd vor dem Kopf wie Schaufeln einzutauchen, bei jedem zweiten Mal holte sie Luft. Auf den Rhythmus kommt es an, erinnerte sich Wencke an die Schwimmübungen ihrer Schulzeit. Nur regelmäßige Bewegungen lassen einen effektiv vorwärtskommen. Die Kraft kontrollieren, die Luft kontrollieren. Das Wasser schmeckte kalkig und brannte in den Augen. Noch fünfzig Meter. Vielleicht auch mehr. Die Muskeln schmerzten und weigerten sich, diese ungewohnte Arbeit weiter zu verrichten. Bloß kein Krampf jetzt, schoss es Wencke in den Sinn. Sie würde es nicht zum Ufer schaffen, mit Yıldırım im Schlepptau schon gar nicht, wahrscheinlich noch nicht einmal allein. Wie hatte sie sich nur so überschätzen können? Warum ließ sie sich schon wieder auf so ein Himmelfahrtskommando ein? Immer wieder diese kleinen Pokerspiele mit dem Tod.
Ihre Schultern knackten, und die rechte Wade fühlte sich an wie ein Klumpen Metall. Sie verschluckte sich. Am liebsten hätte sie um Hilfe gerufen, doch dazu fehlte ihr die Luft – und wer hätte sie hier schon hören können.
Als ihre müden Arme auf einmal an etwas Weiches stießen, erschrak Wencke. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie bereits soweit vorwärtsgekommen
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