Todesbraut
stieg sie nur wenige Stationen weiter am Hauptbahnhof um. Hier gab es genug, was sie vor dem spontanen Zusammenbruch aller lebenswichtigen Organe bewahren konnte. Sie drängte sich durch die hektischen Menschenmassen, die sich zwischen Zugabfahrten, Stadtbahnnetz und Fressständen bewegten, ergatterte einen Obstsalat im Plastikbecher und eine Flasche stilles Mineralwasser.
Als sie ein unförmiges Stück Honigmelone mit den Lippen auffangen wollte, stutzte sie kurz. Inmitten der rasenden Leute meinte sie einen Menschen erkannt zu haben. Ein verlebtes Gesicht, grau und ungesund, mit buttergelbem Haar. Kein Zweifel, es war der Kerl, der ihr heute Morgen in Wunstorf entkommen war. Dieses Mal sah es aber nicht so aus, als habe er sie im Visier, denn er trank Bier, quatschte entspannt mit drei anderen Typen und schob einem graufilzigen Schäferhund eine Bratwurst ins Maul. Er sah aus wie ein typischer Bahnhofspenner, fast kam es Wencke vor, als habe sie ihn hier schon hunderte Male stehen sehen. Nur heute Morgen am Wunstorfer Bahnhof, außerhalb seiner üblichen Umgebung, war er ihr aufgefallen. Am liebsten wäre sie schnurstracks auf ihn zugegangen und hätte ihn zur Rede gestellt, doch dafür fehlte verdammt noch mal die Zeit. Aber morgen, morgen …
Sie nahm einen Schluck Wasser und ärgerte sich, dass Axel jetzt, da der Ruf wieder rausging, das Gespräch nicht annahm. »Geh ran, bitte!« Mit einem Auge studierte sie bereits das S-Bahn -Netz. Nach Misburg gingen zwei Linien, die nächste in zwei Minuten. »Mist!« Sie legte auf.
Hastig kramte Wencke ihr letztes Kleingeld zusammen, zog sich eine Fahrkarte aus dem Automaten und stürzte die Treppe zum Gleis 14 hinauf, wo die S-Bahn schon abfahrbereit stand.
Die Passagiere, überwiegend Pendler mit abgekämpften Mienen, ahnten alle nichts von dem Chaos, das in Wencke herrschte, als die Waggons sich Richtung Nordosten in Bewegung setzten. Die meisten starrten aus den Fenstern, ließen die Hinterhöfe der Mietshäuser an sich vorbeiziehen, flogen mit müdem Blick an den immer schäbiger werdenden Gewerbegebieten entlang, erfreuten sich vielleicht am Farbspiel der Abendsonne, zerbrachen sich den Kopf über eine ausgebliebene Gehaltserhöhung oder drohende Zeitarbeit. In Hannover gab es viele Firmen, die sich auf eine lange Tradition beriefen, aber nun, spätestens seit der Wirtschaftskrise, wenig optimistisch in die Zukunft blickten. Continental und Pelikan und TUI und Bahlsen: die Firmenlogos prangten auf jeder zweiten Jacke, auf Tüten und Schirmmützen. Wie lange würde es dauern, bis Wencke sich hier heimisch fühlte? Sie gehörte nicht dazu, grenzte sich aus, war spürbar anders als die anderen, bestenfalls eine Hannoveranerin mit Migrationshintergrund. So deplatziert hatte sie sich noch nicht einmal in den Staaten gefühlt. Man brauchte kein Kopftuch, um fremd zu sein.
Wencke hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, weil es keinen Zeitbeschleuniger gab, der die Untätigkeit, zu der sie hier in dieser überfüllten Bahn verdammt war, auf der Stelle beendete. Zweimal versuchte sie vergeblich, Axel zu erreichen. Dass sie ihn immer noch nicht ans Handy bekam, steigerte ihre Nervosität.
Endlich hielt die Bahn in Anderten-Misburg, glücklicherweise stand auch ein Taxi auf der Straße vor dem Bahnhof.
»Können Sie mich so schnell wie möglich zur Blauen Lagune fahren?«
Die Fahrerin, die rauchend an einem Touran gelehnt und ihre tätowierten Schultern in die Sonne gehalten hatte, schnipste die Kippe in den Rinnstein. »Welche Seite denn?«
»An der Bahntrasse.«
»Da kann man nicht direkt ran.«
»Ich weiß.« Wencke schob sich auf den Beifahrersitz und musste sich schwer zusammenreißen, um nicht vor lauter Ungeduld schon mal den Wagenschlüssel umzudrehen. Sie schaute auf die Uhr, es waren fünfunfzwanzig Minuten vergangen, seit sie mit Kutgün Yıldırım telefoniert hatte. Der seltsame Informant musste schon längst dort sein. Hoffentlich hatte die Anwältin sich vernünftig verhalten. Diese Frau war außerordentlich engagiert und würde für ihren Mandanten wahrscheinlich so ziemlich jedes Risiko eingehen. »Bitte, können wir losfahren?«
Die Fahrerin schaute skeptisch, startete aber den Wagen und steuerte – gottlob in rasantem Tempo – Richtung Ortsrand. Ewige Getreidefelder, graue Türme der Zementindustrie und immer wieder trostlose Mergelbrüche hinter Zäunen, die zu hoch zum Drüberklettern waren. An manchen Stellen hatte Hannovers Umland
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