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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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  …
    Wencke schloss die Augen. Müdigkeit stülpte sich wie eine Haube über ihren Körper. Ob Emil jetzt schlief? Irgendwo, bei irgendjemandem, der hoffentlich nicht zu verzweifelt, zu skrupellos oder auch zu gleichgültig war, um zu bemerken, was für ein wunderbarer Mensch ihr Sohn war, dem man nicht wehtun durfte, nicht eine Sekunde lang. Die Angst, die in Wencke wucherte,von ihr Besitz ergriff, sie vollends in Beschlag nahm – Wencke musste sie wegschieben, sofort, damit sie handlungsfähig blieb.
    »Fahr uns zu Talabani«, forderte sie Axel auf, kaum dass er hinter dem Steuer Platz genommen hatte.
    Er fragte nicht nach und beschwerte sich mit keiner Silbe. Das Einzige, was er tat, außer den Wagen Richtung Innenstadt zu lenken, war, ihr eine Hand auf den Oberschenkel zu legen, sanft, nicht die geringste Spur aufdringlich. Es war diese kleine Geste, die Wencke zur Ruhe kommen ließ, damit sie ein paar Minuten Schlaf fand in dieser Nacht, von der sie jetzt schon wusste, dass es die längste ihres Lebens werden würde.

… allen   …
    Das regelmäßige Piepen hat etwas Beruhigendes. Es ist das Erste, was sie wahrnimmt. Noch fehlt ihr die Kraft, die Augen zu öffnen. Das ist nicht schlimm. Das Piepen reicht. Es verrät ihr, dass sie lebt.
    Trockene Kleidung. Der Kopf fühlt sich kühl an. Kein Tuch.
    Kurz reißt die Ohnmacht sie noch einmal in die Nische zwischen Leben und Nichtleben, ein Ort, an dem man nicht denken muss. Aber dann erreicht das Geräusch wieder ihr Ohr.
    Da waren das Wasser und der Felsen, sie ist gefallen, von weit oben. Und sie hatte Angst.
    Das ist eine Erinnerung, merkt sie. Ich muss sie mir merken, sie ist wichtig. Wenn ich stark genug bin, die Augen zu öffnen, dann dauert es nicht mehr lang, und ich werde reden können, und dafür brauche ich die Erinnerung.
    Wasser, Felsen, freier Fall, Angst.
    Haare auf dem Unterarm. Stimmt, ganz viele, schwarze Haare. Ein Mann.
    Jemand sagt ihren Namen, das ist keine Erinnerung, das ist Gegenwart. Frau Yıldırım, können Sie mich hören?
    Sie kann hören. Das Piepen wird ein bisschen schneller.
    Sie reagiert, sagt die Stimme. Es ist Papatya. Treue Seele.
    Kann aber auch Zufall sein, sagt ein Mann. Gehirnaktivität normal. Mein Gott, eine zähe Person, Ihre Chefin.
    Das ist sie.
    Wasser, Felsen, freier Fall, Angst, schwarze Haare auf dem Arm, ein bekanntes Gesicht. Sie kennt den Mann. Doch die Erinnerung an eine Erinnerung ist nichts wert. Aber sie kennt den Mann gut.
    Zu anstrengend, kleine Pause, jemand wischt ihr etwas Feuchtes über das Gesicht, ein Lappen, sie wird gewaschen.
    Sie will sich an alles erinnern. An alles.
    In der richtigen Reihenfolge. Ein bekanntes Gesicht, schwarze Haare auf dem Unterarm, sein Name, sie kommt nicht drauf   … oder doch? Kaan   … Ja! Kaan Badili! Wasser,… nein, erst Felsen, dann Angst, dann Fallen, dann Wasser, dann nichts mehr.
    Da fehlt was. Das war nicht alles.
    Eine zähe Person, diese Anwältin.
    Das Piepen ist weg. Kommt wieder. Ist weg.
    Das Herz macht Probleme, sagt die Stimme. Das kann vorkommen, ist normal, war ja eine ganze Weile so gut wie weg, das Herz. Muss sich erst mal wieder an das Schlagen gewöhnen.
    Das Piepen ist da.
    Was fehlt in der Erinnerung? Schnell, schnell   …
    Kaan Badili, Gesicht, Haare, Felsen, Angst, freier Fall, Wasser, Nichts. Da ist noch ein Mann. Ja. Den kennt sie nicht. Blond. Angst. Stimmt. Der blonde Mann kommt vor der Angst.
    Ja.
    Das Piepen ist weg.

14.
    Die Änderungsschneiderei lag in völliger Dunkelheit, nicht ungewöhnlich um diese Uhrzeit, es war bereits halb zwei. Doch Wenckes Instinkt verriet, was das ausdauernde Klopfen gegen die Scheiben bestätigte: Die Familie Talabani war nicht da.
    Wencke, durch die frische Nachtluft und den Sekundenschlaf wieder einigermaßen auf der Höhe, suchte sich den Weg ums Haus. Axel folgte ihr, nicht ohne sich zu vergewissern, dass sie unbeobachtet waren. Ringsherum schienen in erster Linie Bürogebäude zu liegen, Licht brannte in keinem der Häuser.
    Die schweren roten Vorhänge in Talabanis Wohnung waren zugezogen, man konnte nur durch einen zentimeterschmalen Schlitz spähen. »Die sind abgehauen. So ein Mist, ich habe von Anfang an gewusst, dass diese Familie etwas zu verbergen hat. Ich hätte mehr Druck machen und mich nicht für dumm verkaufen lassen sollen.«
    Axel hatte, statt zu fluchen und zu schimpfen, die anderen Fenster kontrolliert. »Aber sie waren so unvernünftig, die Wohnung nicht richtig zu

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