Todesbrut
hätte auch Nelson Mandela geheiratet, zumindest, solange er noch in Südafrika im Gefängnis saß. Sie war praktische Ärztin und jetzt, in dieser schweren Situation, machte sie Hausbesuche. Jeder, der nicht in die Praxis kam, entlastete diese.
Sosehr die Sprechstundenhilfen Dr. Husemann liebten, sosehr hassten sie seine Frau. Mit ihren 1,72 in und 54 Kilo war sie ein magersüchtiges Denkmal für Pflichterfüllung und Askese.
In dieser irrwitzigen Situation, wie sie noch niemand der Anwesenden vorher schon einmal in ähnlicher Weise erlebt hatte, hier, in diesem Hausflur, packte Bettina Göschl ihre Gitarre aus und begann, für die Kranken zu spielen. Sie zupfte ganz leicht ein paar Töne. Sie breiteten sich aus durch den Flur und hinauf ins nächste Stockwerk. Die Menschen wurden ruhiger. Das Stöhnen und Schimpfen wurde leiser. Der Zauber der Klänge erfüllte den langen Flur und Bettina sang nicht, sondern summte nur ein Kinderlied. Bald summten die ersten Menschen mit und begannen sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als sie klein waren und der Abend am Ofen voller Lieder und Geschichten.
»Ja, das ist gut, das ist gut. Mach weiter!«, flüsterte Carlo Rosin und sah auf seinem Handy die Nachricht seiner Frau: Wo bleibst du? Ich werde langsam sauer.
Er simste zurück: Dies ist eine Ausnahmesituation. Ich kann nichts dafür. Ich werde gebraucht.
Fast augenblicklich kam die zornige Antwort: Du benutzt dieses Virus nur, um dich vor der goldenen Hochzeit zu drücken.
Einer der Wartenden, Achmed Yildirim, der den besten Döner der Stadt machte und seit vielen Jahren jeden Morgen um fünf aufstand, um an seinem Roman über die Geschichte seines kurdischen Volkes zu schreiben, summte laut mit und fragte, ob Bettina auch ein kurdisches Kinderlied spielen könnte. Sie schüttelte den Kopf.
Als Dr. Husemann bei Frau Steiger angekommen war, konnte er nur noch ihren Tod feststellen. Minuten bevor er sich zu ihr bückte, musste sie den letzten Atemzug getan haben.
Leon Sievers hielt noch ihre warme Hand und hatte nicht bemerkt, dass sie langsam vom Leben in den Tod hinübergeglitten war.
»Ich glaube nicht«, sagte Dr. Husemann, »dass sie am Virus gestorben ist. Wahrscheinlich war alles einfach zu viel für sie. Ein Herzinfarkt vermutlich oder ein Gehirnschlag.«
Carlo fragte sich, woran der Arzt das wohl sehen wollte, aber es war ihm nicht wichtig, nachzuhaken. Vielleicht, dachte er, will er nur dafür sorgen, dass die Tote umgehend abgeholt wird. Welches Beerdigungsinstitut hat schon gerne den Auftrag, eine hochinfektiöse Leiche für die Bestattung zu übernehmen?
»Glauben Sie, sie ist noch ansteckend?«, fragte er.
Dr. Husemann sah ihn an, wie um zu prüfen, ob er ihm die Wahrheit sagen konnte oder ihn beruhigen musste.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Die Viren werden in ihrem Körper noch eine ganze Weile leben. Aber sie atmet nicht und ich glaube auch nicht, dass jemand vorhat, sie zu küssen. Oder?«
Während Bettina Göschl weiter Kinderlieder summte und das Summen zu einem anschwellenden mehrstimmigen Gesang im Flur wurde, bat Dr. Husemann mit einer Kopfbewegung Carlo Rosin, mit vor die Tür zu kommen.
Fast freundschaftlich legte Dr. Husemann den rechten Arm um Carlos Schulter und zog ihn zu sich. Beide atmeten tief. Die Luft hier draußen tat trotz der Autoabgase gut. Der Nordseewind frischte auf und fegte Verpackungen von Eispapier durch die Straße.
»Tun Sie mir einen Gefallen. Nehmen Sie die Tote mit.«
»Wie bitte? Soll das ein Scherz sein? Wir kennen die Frau gar nicht. Wir haben sie einfach nur hierhergebracht. Was haben wir damit zu tun?«
»Sie sehen ja, was hier los ist. Ich werde doch mit den Patienten schon nicht mehr fertig. Ich kann mich nicht auch noch um die tote Frau kümmern.«
»Aber dafür gibt es Beerdigungsinstitute.«
»Ja, normalerweise schon.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe gerade mit meiner Frau gesprochen. Sie macht Hausbesuche. Sie konnte schon zweimal heute bei Patienten nur den Tod feststellen und beide Male hat sie keinen Leichenwagen bekommen. Die Möglichkeiten sind eben begrenzt.«
»Wie darf ich mir das vorstellen, Herr Dr. Husemann? In welchen Größenordnungen wird hier gerade gestorben?«
Er zuckte mit den Schultern. Carlo Rosin wusste nicht, ob der gute Mann nicht antworten wollte oder nicht antworten konnte.
»Hören Sie, ich bin eigentlich nur zufällig in Emden, weil meine Schwiegereltern hier goldene Hochzeit feiern. Ich arbeite
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