Todesdämmerung
schließlich zur Hütte zurückkehrte. Sein Gesicht war von der eisigen Luft gerötet, und in seinen Augenbrauen hing Rauhreif, aber einen Augenblick lang waren seine Augen das Kälteste an ihm.
»Was ist geschehen?« fragte sie, als er durch das Wohnzimmer zum Eßtisch ging und auf dem Fußboden schmelzende Schneeklumpen hinterließ.
»Weggeblasen hab ich sie. Wie auf dem Schießplatz.«
Während sie ihm half, seinen Rucksack abzunehmen, und ihn auf den Tisch legte, fragte sie: »Alle?«
»Nein. Drei Männer habe ich entweder getötet oder schwer verwundet. Und vielleicht einen vierten angekratzt, aber das bezweifle ich.«
Sie fing an, in fieberhafter Eile den wasserdichten Rucksack zu packen. »Spivey?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht hab ich sie getroffen. Ich weiß es nicht.«
»Kommen sie immer noch?«
»Bestimmt. Wir haben vielleicht einen Vorsprung von zwanzig Minuten.«
Der Rucksack war jetzt halbvoll. Sie hielt inne, eine Dose mit Streichhölzern in der Hand. Sie starrte ihn an. »Charlie?« sagte sie. »Was ist?«
Er wischte sich den schmelzenden Schnee vom Gesicht. »Ich habe noch nie so etwas getan. Das war ein Abschlachten. Im Krieg natürlich, aber das war anders. Das war Krieg.«
»Das ist das hier auch.«
»Mhm. Wahrscheinlich. Bloß, daß es mir gefallen hat, als ich sie abschoß. Und selbst im Krieg war das nicht so. Nie mals.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte sie und fuhr fort, Dinge in den Rucksack zu stopfen. »Nach dem, was die uns angetan haben, würde ich selbst gerne ein paar von ih nen abschießen. Herrgott, und ob ich das möchte!«
Charlie sah Joey an. »Zieh deine Handschuhe und deine Maske an, Captain.«
Der Junge reagierte nicht. Er stand am Tisch, sein Gesicht war ausdruckslos, seine Augen tot.
»Joey?« sagte Charlie.
Der Junge regte sich immer noch nicht. Er starrte Christines Hände an, während sie verschiedene Gegenstände in den zweiten Rucksack stopfte, aber es schien, als würde er sie in Wirklichkeit gar nicht sehen.
»Was ist mit ihm los?« fragte Charlie.
»Er... er ist einfach... weggegangen, nicht mehr da«, sagte Christine und kämpfte erneut gegen die Tränen an, die sie erst vor kurzem verdrängt hatte.
Charlie ging zu dem Jungen, legte ihm die Hand unter das Kinn, hob seinen Kopf. Joey blickte auf, richtete den Blick auf Charlie, sah ihn aber nicht, und Charlie redete auf ihn ein, aber ohne Wirkung. Der Junge lächelte vage, humorlos, ein gespenstisches Lächeln, aber selbst das war nicht für Charlie bestimmt; es galt etwas, das er in der Welt, in die er sich begeben hatte, gesehen oder erkannt hatte, irgend etwas, das Lichtjahre weit entfernt war. Tränen schimmerten in den Augenwinkeln des Jungen, aber das unheimliche Lächeln blieb auf seinem Gesicht haften, und er gab keinen Laut von sich, schluchzte auch nicht.
»Verdammt«, sagte Charlie ganz leise.
Er drückte den Jungen an sich, aber Joey reagierte nicht. Dann nahm Charlie den ersten Rucksack, der bereits voll war, schob die Arme durch die Riemen, rückte ihn zurecht und schnallte ihn sich über der Brust fest.
Christine legte letzte Hand an den zweiten Rucksack, vergewisserte sich, daß die einzelnen Taschen sicher verschlossen waren, und nahm dann ebenfalls die Last auf die Schultern.
Charlie zog Joey die Handschuhe und die Skimaske an. Der Junge unterstützte ihn dabei so gut wie gar nicht.
Dann nahm Christine die geladene Schrotflinte und folgte Charlie, Joey und Chewbacca aus der Hütte. Sie sah sich noch einmal um, ehe sie die Tür hinter sich schloß. Im offenen Kamin loderte ein Feuer. Eine der Messinglampen war eingeschaltet und warf einen Kegel aus weichem bernstein farbenem Licht. Die Armsessel und Sofas sahen behaglich und verlockend aus.
Sie fragte sich, ob sie je wieder in einem Sessel sitzen, je wieder eine elektrische Lampe sehen würde. Oder würde sie noch heute nacht dort draußen im Wald sterben, in einem Grab aus angewehtem Schnee?
Sie schloß die Tür und drehte sich um, stellte sich der grauen, froststarrenden Festung der Berge.
Charlie, der Joey trug, führte Christine um die Hütte herum in den Wald dahinter. Bis sie den Schutz der Bäume erreicht hatten, sah er sich immer wieder nervös nach der offenen Wiese hinter ihnen um, erwartete, daß am anderen Ende Spiveys Leute auftauchten.
Chewbacca hielt sich ein paar Meter vor ihnen; irgendein sechster Sinn ließ ihn die Richtung ahnen, die sie einschla gen wollten. Er hatte etwas mehr
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