Todesdämmerung
Als sie den höchsten Punkt des Kammes erreicht hatten, wo es überhaupt keine Bäume mehr gab, konnte Christine sehen, daß sich ein neuer Sturm zusammengebraut hatte, und wenn man nach dieser frühen Phase schließen konnte, würde er noch schlimmer werden als der in der letzten Nacht. Die Temperatur lag ein gutes Stück unter Null, und der Wind fegte von den Tälern herauf, blies immer heftiger und peitschte sie, während sie dastanden und versuchten, Atem zu schöpfen. Ein paar Stunden noch, und der Berg würde eine weiße Hölle sein. Und jetzt waren sie ohne den warmen Zufluchtsort, den die Hütte geboten hatte.
Charlie führte sie nicht sofort in das nächste Tal hinunter. Er drehte sich um und starrte, am Rande des Kammes stehend, nachdenklich auf den Weg, den sie gekommen wa ren. Irgend etwas beschäftigte ihn, irgendein Plan. Soviel konnte Christine erkennen, und sie hoffte, daß es ein guter Plan war. Sie waren in der Minderzahl und mußten verdammt geschickt sein, wenn sie gewinnen wollten.
Sie kauerte sich neben Joey nieder. Die Nase lief ihm, und die Flüssigkeit war ihm auf der Oberlippe und der Wange festgefroren. Sie wischte mit der behandschuhten Hand über sein Gesicht, säuberte ihn, so gut sie konnte, und küßte ihn auf beide Augen, drückte ihn an sich.
Er redete nicht.
Seine Augen sahen durch sie hindurch, so wie vorher.
Grace Spivey, ich werde dich töten, dachte Christine und blickte auf den Weg, den sie gekommen waren, und den Wald. Für das, was du meinem kleinen Jungen angetan hast, werde ich dir deinen gottverdammten Schädel herunterblasen.
Charlie kniff die Augen zusammen, während der eisige Wind ihm den Schnee ins Gesicht blies, musterte ihre Umgebung und entschied, daß dies genau der richtige Ort für einen Hinterhalt war. Es war eine lange, baumlose Fläche, die ungefähr in Nordsüdrichtung verlief, an manchen Stellen nur fünf Meter breit, an anderen zehn und größtenteils von den eisigen Winden vom Schnee befreit. Felsformationen, von Jahrhunderten des Windes geglättet und ausgehöhlt, ragten überall in die Höhe und boten ein Dutzend idealer Verstecke, von denen aus er die aufsteigenden Zwie lichter beobachten konnte.
Im Augenblick war keine Spur von Spiveys Leuten zu sehen. Er konnte natürlich nicht besonders weit in die von Schatten verhangenen Wälder hineinsehen. Obwohl die Bäume auf dem Abhang unmittelbar unter ihnen ebenso dicht standen wie weiter unten, wirkten sie doch wie eine hundert oder vielleicht hundertzwanzig Meter entfernte Mauer aus Bäumen. Dahinter könnte sich eine ganze Armee anschleichen, und er würde sie nicht sehen. Und der Wind, der über den Kamm pfiff und stöhnte, entlockte den Zweigen der riesigen Bäume ein lärmendes Zischen und Ra scheln und übertönte damit jegliches Geräusch, das die Verfolger vielleicht machten.
Doch Charlie ahnte instinktiv, daß die Verfolger wenigstens noch zwanzig Minuten hinter ihnen lagen, vielleicht sogar noch weiter. Während sie mühsam den Kamm erkletterten, von Joey zusätzlich behindert, hatte Charlie das sichere Gefühl gehabt, daß sie wertvollen Vorsprung verlo ren. Aber jetzt wurde ihm klar, daß Spiveys Bande vorsichtig aufsteigen würde, besorgt, es könne einen weiteren Hin terhalt geben, und das wenigstens den ersten halben Kilo meter, bis sie wieder Zutrauen gewannen. Außerdem hatten sie wahrscheinlich angehalten, um in der Hütte nachzu sehen, und dort einige Minuten vergeudet. Er hatte genügend Zeit, um einen hübschen Willkomm für sie vorzubereiten.
Er ging zu Christine und Joey und kniete neben ihnen nie der.
Der Junge war immer noch wie in Trance und nahm nicht einmal wahr, daß sich der Hund freundlich an seinem Bein rieb.
Zu Christine sagte Charlie: »Wir gehen jetzt hinunter ins nächste Tal, so weit wir es in fünf Minuten schaffen, und finden eine Stelle, wo ihr beide etwas vor dem Wetter geschützt seid. Dann gehe ich wieder hier herauf und warte auf sie.«
»Nein.«
»Ich sollte wenigstens einen wegputzen können, ehe die Deckung suchen.«
»Nein«, sagte Christine und schüttelte hartnäckig den Kopf. »Wenn du hier auf sie wartest, warten wir mit dir.«
»Unmöglich. Sobald ich mit Schießen fertig bin, möchte ich hier schnell abhauen. Wenn ihr hier bei mir seid, müssen wir uns langsam bewegen; auf die Weise verlieren wir zu viel Vorsprung.«
»Ich glaube nicht, daß wir uns trennen sollten.«
»Das ist die einzige Möglichkeit.«
»Aber das macht mir
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