Todesdämmerung
überzeugt war, daß seine Anwesenheit Joey davon abhielt, völlig in tiefe Katatonie oder gar ins Koma zu sinken. Er hatte nicht das Herz, sie daran zu hindern, das Tier zu füttern. Nicht jetzt. Noch nicht. Das hatte Zeit bis morgen. Vielleicht würde das Wetter bis dahin umgeschlagen haben, und vielleicht konnten sie dann zum See hinuntergehen.
Joeys Atem verschlechterte sich einen Augenblick lang; sein Keuchen wurde erschreckend laut und unregelmäßig.
Christine veränderte sofort die Position des Kindes, schob ihre zusammengeknüllte Jacke unter seinen Kopf. Es funktionierte. Das Keuchen wurde leiser.
Charlie beobachtete den Jungen und dachte: Tut dir auch alles so weh wie mir, Kleiner? Herrgott, hoffentlich das nicht. Das hast du nicht verdient. Du verdienst einen besseren Leibwächter, als ich es gewesen bin. Ganz sicher sogar.
Die Schmerzen, die Charlie selbst litt, waren viel schlimmer, als er Christine gegenüber zugab. Die frische Dosis Tylenol und der Puder halfen, aber bei weitem nicht so wie die erste Dosis. Der Schmerz in seiner Schulter und seinem Arm fühlte sich jetzt nicht mehr wie ein lebendes Wesen an, das versuchte, sich seinen Weg aus ihm herauszubeißen. Jetzt fühlte er sich an, als wären kleine Männer von einem anderen Planeten in ihm, kleine Männer, die seine Knochen in kleinere und immer kleinere Splitter zerbrachen, seine Sehnen und seine Muskeln zerfetzten und über alles Schwefelsäure schütteten. Ihr Ziel war, ihn mit der Zeit völlig auszuhöhlen, mit Säure alles in ihm wegzubrennen, bis nur noch seine Haut zurückblieb, und dann würden sie den schlaffen, leeren Hautsack aufblasen und ihn in einem Museum auf ihrer eigenen Welt ausstellen. So fühlte es sich jedenfalls an. Nicht gut. Gar nicht gut.
Später ging Christine an den Höhleneingang, um Schnee zu holen und daraus Trinkwasser zu schmelzen, und stellte fest, daß die Nacht hereingebrochen war. Sie hatten den Wind in der Höhle nicht hören können, aber er wütete immer noch. Schnee fegte schräg aus der Finsternis herunter, und die eisige turbulente Luft hämmerte mit arktischer Wut auf das Tal nieder.
Sie kehrte in die Höhle zurück, stellte den Topf mit Schnee ans Feuer, damit er schmolz, und unterhielt sich eine Weile mit Charlie. Seine Stimme war schwach. Er hatte größere Schmerzen, als er ihr eingestehen wollte, aber sie ließ ihn in dem Glauben, daß er sie täuschte, weil sie nichts tun konnte, um seine Schmerzen zu lindern. Doch es verging nicht einmal eine Stunde, bis er trotz seiner Schmerzen ebenso wie Joey und Chewbacca eingeschlafen war.
Sie saß zwischen ihrem Sohn und dem Mann, den sie liebte, den Rücken dem Feuer zugewandt, blickte zum Höhleneingang und beobachtete die Schatten und Reflexe der Flammen, die an den Wänden eine hektische Gavotte tanzten. Ein Teil ihres Bewußtseins lauschte auf ungewöhnliche Geräusche, ein anderer Teil überwachte die Atmung des Mannes und des Jungen, voller Angst, einer von beiden könnte plötzlich zu atmen aufhören.
Der geladene Revolver lag neben ihr. Zu ihrer Bestürzung hatte sie erfahren, daß Charlie keine weiteren Ersatzpatronen in den Jackentaschen hatte. Die Schachtel mit Munition befand sich in seinem Rucksack, den sie an dem Felsüberhang zurückgelassen hatten, wo sie seine Schulter versorgt hatte.
Sie war wütend auf sich selbst, daß sie sie vergessen hatte. Der Karabiner und die Schrotflinte waren weg. Der Revolver war jetzt ihr einziger Schutz, und sie hatten nur die sechs Patronen in der Trommel.
Der Totembär leuchtete an der Wand.
Zehn Minuten nach acht hörte Christine auf, Holz nachzu legen. Charlie begann im Schlaf zu stöhnen und den Kopf unruhig auf dem Kissen herumzuwerfen, das sie aus seiner zusammengerollten Jacke für ihn gemacht hatte. Schweiß war ihm ausgebrochen.
Sie brauchte ihm bloß die Hand auf die Stirn zu legen, um zu erkennen, daß er Fieber hatte. Sie beobachtete ihn eine Weile und hoffte, daß er sich wieder beruhigen würde, aber es wurde nur schlimmer. Aus seinem Stöhnen wurden leise Schreie, dann weniger leise. Er fing an zu plappern. Manchmal war es unartikulierter Unsinn. Manchmal spuckte er Worte und sinnlose Satzfetzen aus.
Und dann wurde er so unruhig, daß sie zwei weitere Tylenoltabletten aus der Flasche holte, einen Becher mit Wasser füllte und versuchte, ihn aufzuwecken. Obwohl der Schlaf ihm anscheinend kein Behagen bereitete, wollte er zuerst nicht zu sich kommen, und als er schließlich die
Weitere Kostenlose Bücher